Bücher verschlingen

Mach die Taschenlampe aus, du verdirbst dir noch die Augen! Doch manche Bücher sind so spannend, dass Kinder nachts unter der Bettdecke einfach weiterlesen müssen. Erwachsenen geht es nicht anders. Sie können das Buch nicht weglegen, obwohl es schon längst Mitternacht geschlagen hat und sie sich fest vorgenommen haben, die Nachttischlampe spätestens nach der nächsten Seite auszuknipsen. Sie sind weit weg im Mittelalter, in der Zukunft oder in Südamerika und können nicht so einfach in die schnöde Wirklichkeit zwischen den Bettlaken zurückkommen.
Ein Buch in sich hineinfressen, das gab es schon zu Ezechiels Zeiten. Gott selbst gibt dem Propheten ein Buch, eine Schriftrolle zu essen. Dieses Buch entführt Ezechiel nicht in eine andere Welt, sondern in seine eigene. Klagen, Ach und Weh sind darin aufgeschrieben. Das Buch lässt ihn seine Umgebung nicht vergessen, sondern stellt sie ihm glasklar vor Augen. „Sie war außen und innen beschrieben und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh. … Da aß ich sie und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.“ (aus Ezechiel 2,10; 3,3)

Bücher sind kostbar. Geschriebene Worte können so wertvoll sein, dass die einen große Risiken eingehen, um sie zu lesen und weiterzugeben. Und die anderen versuchen, sie zu verbieten und die, die sie geschrieben haben, mundtot zu machen. Blogger*innen verschwinden. Autor*innen wandern ins Gefängnis. Ihre Angehörigen werden bedroht. Journalist*in zählt zu den gefährlichsten Berufen weltweit. Wenn sie Umweltzerstörung aufdecken oder zu Verflechtungen von Politik und Wirtschaft recherchieren, müssen sie nicht selten mit dem Leben bezahlen, so wie Prophet*innen in biblischen Zeiten.

Vor 1989 mussten alle Westzeitungen aus den Gepäcknetzen des Interzonenzuges weggeworfen werden, wenn sich der Zug der DDR-Grenze näherte, selbst Modezeitschriften, die „Bunte“ oder „Micky Maus“. Geschmuggelt wurde trotzdem. Umso kostbarer waren die Bücher und Zeitschriften, die es trotzdem hierher geschafft haben. Unter der Hand wurden sie weitergegeben, und mancher zerlesene Comic wurde noch nach Jahren wie ein Schatz gehütet. Ein „Spiegel“, der den Weg über die Grenze gefunden hatte, war besonders interessant und wurde genauestens studiert.
Besonders wichtig waren Artikel, die die DDR betrafen und Nachrichten und Hintergründe enthielten, die nicht im „Neuen Deutschland“ standen. Immer mehr Leute in der DDR waren der Propaganda und der Phrasen überdrüssig. Sie haben gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie haben nicht jedem Wort getraut, das aus den Westmedien kam. Aber wir haben gehungert nach Informationen. Wir waren gierig nach Berichten, die nicht gefiltert waren und die uns etwas sagen konnten über uns selbst, über unser Land, über Entwicklungen bei uns. Manchmal kursierten in kirchlichen Kreisen Ormig-Abzüge mit kritischen Worten.
Wir haben solche Informationen förmlich verschlungen, weil sie so wichtig waren für uns selbst. Im kleinen Kreis wurden sie hin und her bewegt, gewendet, geschmeckt, geteilt. Sie waren uns süß, nicht weil sie so viel Erfreuliches gekündet hätten – die Lobeshymnen der Propaganda waren uns über. Sondern im Gegenteil weil wir das, was uns beschwerte und worüber wir klagten, ausgesprochen, in Worte gefasst und bestätigt fanden. „Sie war außen und innen beschrieben und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh. … Da aß ich sie und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.“

Damals waren wir hungrig nach Informationen. In vielen Gegenden der Erde warten Menschen nach wie vor auf Informationen, die ihnen vorenthalten werden, auf klare Worte und Aufklärung. In unserem Land aber hat sich in den letzten drei Jahrzehnten viel verändert, nicht zuletzt durch die Digitalisierung. Aus dem Mangel an Informationen ist eine Flut von Papieren und Webseiten geworden, eine Informationsflut. Wir werden förmlich zugeschüttet. Wir haben damit zu tun, die vielen Informationen zu ordnen und uns in ihnen zurechtzufinden. Manche Menschen lassen sich den Kopf verdrehen von Hetze, Fake News und verdrehten Fakten.
Welche Worte und wessen Worte sind wichtig und führen zum Leben? Was für Meinungen verbreiten wir? Welche Botschaften gehen von uns aus? Welche Meinungen verstärken wir, indem wir sie stehen lassen, ihnen nicht widersprechen? Was sind die Bücher, die Analysen und Kommentare, Portale im Internet, die unsere Situation heute aufhellen und uns weiterhelfen können? Wie können Gerechtigkeit, Frieden, Liebe unter uns wachsen?

Lesen bildet nach wie vor und es macht Spaß, ob es ein Krimi, eine Liebesgeschichte oder ein Fantasy-Buch ist. Romane können treffend schildern, was Menschen bewegt und wie sie sich entwickeln, und Bücher können Mut machen.
Die Bibel sagt uns: Worte tragen Früchte. (Lukas 8,4-8, Evangelium des Sonntags) Die hasserfüllten wie die guten. Die gesprochenen und die geschriebenen. Die, die wir hören oder lesen, und alles, was wir selbst aufschreiben und sagen. Manchmal redet Gott in ihnen zu uns, und manchmal sollen wir selbst Gottes Mund sein. Amen.

Anregung: Ein Buchhändler erzählt, wie schwierig es in der DDR war, begehrte Bücher für die Buchhandlung heranzuschaffen, und wie schnell sie ausverkauft waren.

Predigt am Sonntag Sexagesimae über Ezechiel 2,1-10; 3,1-3
Predigten in der Passions- und Vorpassionszeit: hier
Predigten im Kirchenjahr: hier

 

Ezechiel 2,1-10; 3,1-3: Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, tritt auf deine Füße, so will ich mit dir reden. 2 Und als er so mit mir redete, kam Leben in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte dem zu, der mit mir redete. 3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den Israeliten, zu dem abtrünnigen Volk, das von mir abtrünnig geworden ist. Sie und ihre Väter haben bis auf diesen heutigen Tag wider mich gesündigt. 4 Und die Söhne, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Zu denen sollst du sagen: „So spricht Gott der HERR!” 5 Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen ist. 6 Und du, Menschenkind, sollst dich vor ihnen nicht fürchten noch vor ihren Worten fürchten. Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich, und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten vor ihren Worten und dich vor ihrem Angesicht nicht entsetzen – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, 7 sondern du sollst ihnen meine Worte sagen, sie gehorchen oder lassen es; denn sie sind ein Haus des Widerspruchs. 8 Aber du, Menschenkind, höre, was ich dir sage, und widersprich nicht wie das Haus des Widerspruchs. Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde. 9 Und ich sah, und siehe, da war eine Hand gegen mich ausgestreckt, die hielt eine Schriftrolle. 10 Die breitete sie aus vor mir, und sie war außen und innen beschrieben und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh.
3, 1 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was du vor dir hast! Iss diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel! 2 Da tat ich meinen Mund auf und er gab mir die Rolle zu essen 3 und sprach zu mir: Du Menschenkind, du musst diese Schriftrolle, die ich dir gebe, in dich hineinessen und deinen Leib damit füllen. Da aß ich sie und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.

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