Sorgt nicht – Lockerungen im Mai

Beobachtet die Vögel, freut euch an den Blumen. Macht euch keine Sorgen (Matth. 6)**. Die meisten sind froh, dass sie wieder heraus können. Familien haben es wochenlang in engen Wohnungen miteinander ausgehalten. Selbständige haben gebangt, dass sie nicht Insolvenz anmelden müssen. Geschäftsleute drängen, dass sie Läden und Gaststätten wieder aufmachen können. Endlich Mai. Endlich Sonne und Luft. Freiheit schmeckt süß. Viele Menschen haben neu gemerkt, wie wertvoll – und verletzlich – demokratische Rechte sind: Freizügigkeit, Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Demokratie ist kostbar. Die Menschen strömen ins Freie und atmen auf. Sorgt nicht. Es genügt, wenn jeder Tag seine eigene Last hat.

In Wahrheit wissen wir nicht, was morgen ist. Wir wissen nicht, ob eine zweite oder dritte Infektionswelle über uns hereinbricht, so wie 1565, 1574, 1598, 1611 oder 1626 in Sangerhausen. Da hat die Pest immer wieder die halbe Stadt dahingerafft. Noch um 1700 stand jedes dritte Haus leer und unbewohnt.
Sorget nicht. Es genügt, wenn jeder Tag seine eigene Last hat. Alles ist vorläufig geworden. Niemand kann einschätzen, wie es in vier Wochen, in einem Vierteljahr oder im nächsten Frühjahr sein wird. Es ist für lange Zeit völlig unmöglich, Pläne zu machen. Das ist ungewohnt.

Im März war ich in Brasilien. In Rio de Janeiro habe ich die Favelas gesehen, die Armenviertel, die sich die Felshänge Rio de Janeiros hinaufziehen. Dort wohnen die Leute dicht gedrängt. Schon in normalen Zeiten schlagen sie sich mehr schlecht als recht durch als Gärtner, Hausangestellte oder Gelegenheitsverkäuferin. Doch die Strände und Hotels sind jetzt leergefegt. Niemand braucht sie mehr. Derweilen wandert das Virus durch die Gassen der Favelas. Quarantäne halten ist eine echte Herausforderung. Kontakt vermeiden und zuhause bleiben heißt, dass die Kinder am Abend nichts mehr zu essen haben.

Die Armen auf der anderen Seite des Erdballs wissen sehr wohl, wie sich die Unsicherheit anfühlt, was auch nur der nächste Tag bringt. Solche Menschen waren es, die vor 2000 Jahren am See Genezareth Jesus zugehört haben. Nicht die Wohlsituierten, die mit den Wohlstandsproblemen und Sinnkrisen, waren sein Publikum. Die gab es damals so gut wie gar nicht. Die meisten Leute lebten von der Hand in den Mund. Zu ihnen sagt Jesus: Sorgt nicht, was der Tag morgen bringt. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Last hat.

Das war ihre Realität. Der konnten sie nur ihre Hoffnung entgegensetzen: Dass Gott sich ihrer annimmt, dass Gott sich auf ihre Seite stellt und ihr Überleben rettet, Tag um Tag. Gottes neue Welt, Gottes Reich, Gottes Gerechtigkeit sorgt endlich auch für sie und ihr Recht. Sucht zuerst die gerechte Welt Gottes, und dies alles wird euch geschenkt. So trotzig und widerständisch hoffen war ihre einzige Chance.
Gleichzeitig konnten  sie nur die Tage nehmen, wie sie sind, und sich an dem erfreuen, was sie bringen – genau wie wir. Der blaue Himmel, die Vögel im Geäst.

Mein Terminkalender hat sich geleert statt gefüllt. Das Gefühl, wie die Zeit verfließt, hat sich verändert. Nicht planen können verbindet mich mit den Menschen der Bibel und mit den Armen der Welt. Im Gegensatz zu ihnen haben wir genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und ein funktionierendes Gesundheitssystem. Das relativiert unsere Sorgen vielleicht ein wenig.
Niemand kann sagen, wie wir Weihnachten feiern oder ob sich die Lage in einem Jahr „normalisiert“ hat. Was heißt „normalisiert“? Wir werden wohl lange anders miteinander umgehen, vorsichtiger und hoffentlich behutsamer. Die Erfahrung der letzten Wochen hat mir geholfen, die Relationen wieder geradezurücken, was wichtig ist im Leben – und was ich alles nicht brauche an Luxusgütern.

Jesus gibt uns Recht, wenn wir von einer Welt träumen, die komplett anders gestaltet ist, in der Vögel ihre Kreise ziehen und Blumen auf den Feldern wachsen. Es ist Zeit für eine solidarische Wirtschaftsordnung, in der auch die Armen nicht verhungern. Jesus ist davon überzeugt, dass sie möglich ist, wenn wir uns um Gerechtigkeit bemühen. Sorgt euch nicht! Seht die Vögel des Himmels an und die Blumen auf den Feldern. Suchet zuerst nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.

Predigt im Mai 2020 über Mt 6, 26-34

 

** Sorgt nicht!
Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte– und Gott ernährt sie. Sollte es bei euch so viel anders sein? Könnt ihr euren Lebensweg auch nur um eine kurze Spanne verlängern, wenn ihr euch Sorgen macht? Und was sorgt ihr euch um Kleidung? Betrachtet die Blumen auf den Feldern, wie sie sich entfalten. Sie arbeiten nicht und sie spinnen nicht. Und ich sage euch: Nicht einmal König Salomo in all seiner Pracht war schöner gekleidet als eine dieser Feldblumen. Wenn aber Gott selbst die Gräser auf dem Feld so kleidet, die heute da sind und morgen in den Ofen geworfen werden – wird er sich dann nicht erst recht um euch kümmern? Gott weiß, dass ihr dies alles braucht. Sucht zuerst die gerechte Welt Gottes, und dies alles wird euch geschenkt. Darum sorgt euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Es genügt, wenn jeder Tag seine eigene Last hat. Aus Matthäus 6,26-34 (aus der „Bergpredigt“)

Ein Gedanke zu “Sorgt nicht – Lockerungen im Mai

  1. Corona ist Gott sei Dank nicht die Pest. Die Corona-Viren-Saison endete bisher jedes Jahr im April.

    Die Grafik vom 30. Juli 2019 auf emedicine.medscape.com/article/227820-overview zeigt das sehr deutlich.
    Und die aktuellen Zahlen auch.

    „Mein“ Krankenhaus möchte endlich wieder Normalbetrieb nach dem wochenlangen Leerstand für Patienten, die nicht kamen.
    Seit Ostern haben wir Kurzarbeit.
    Lange hält mein Krankenhaus nicht mehr durch.

    So geht es momentan vielen Kliniken.
    Davon spricht aber keiner.

    Das Corona-Virus killt Kliniken vermutlich besser als Menschen.

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