Im August 1995 erscheint in Malaysia ein Bericht, der die Regierung in Angst und Schrecken versetzt. Er trägt den sperrigen Titel “Missbrauch, Folter und entwürdigende Behandlung von Gastarbeitern in Internierungslagern”. Was die Regierung so in Rage bringt: Der Bericht der Frauenrechtsorganisation Tenaganita ist wahr. Es hat sogar Todesfälle in Abschiebelagern gegeben, 42 an der Zahl.
Aber die Regierung will das nicht zugeben. Und noch weniger will sie daran etwas ändern. Stattdessen verklagt sie die Verfasserin: Irene Fernandez, 49. Die dreifache Mutter ist keine Unbekannte. Begonnen hat sie als Lehrerin. Aber schon mit 25 Jahren, 1971, hängt sie ihren Job an den Nagel. „Unser Schulsystem ignorierte damals völlig die Bedürfnisse der Kinder aus den armen Familien. Die waren nicht dümmer, aber sie bekamen nie eine Chance.“ Sie engagiert sich in einer christlichen Jugendorganisation für die Menschenrechte und seit den 70-er Jahren für die Frauenbewegung in Malaysia. 1991 gründet sie die Frauenorganisation Tenaganita.
Es ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in Malaysia, und er wird möglich durch billige ausländische Arbeitskräfte. Sie kommen aus den umliegenden Ländern, auf die Palmölplantagen, als Hauspersonal und in die Textil- und Elektronikfabriken. Ungefähr 3 Millionen, darunter viele Frauen. Nur 450.000 von ihnen sind legal im Land. Wenn die Aufenthaltsgenehmigung ausläuft und sie von den Behörden aufgegriffen werden, kommen sie in staatliche Abschiebelager. Doch dort geht es haarsträubend zu: schwere Misshandlungen, sexueller Missbrauch, Unterernährung. Tenaganita macht dies 1995 öffentlich.
Irene Fernandez wird verhaftet. Sie wird wegen „böswilliger Veröffentlichung falscher Nachrichten“ angeklagt. 310 mal muß sie vor Gericht erscheinen. Nach acht Jahren, 2003, wird sie zu einem Jahr Haft verurteilt – es ist das längste Verfahren in der Geschichte Malaysias. Daß sie mittlerweile mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wird und dass sich Amnesty International für sie einsetzt, beeindruckt die Behörden keineswegs. Sie wird zwar auf Bewährung vorläufig freigelassen. Doch immer wieder wird ihr Pass konfisziert, sie darf nicht bei Wahlen kandidieren, das Büro wird durchsucht, die Konten von Tenaganita eingefroren. Aber Irene Ferndandez gibt nicht auf – im Gegenteil. 2008 spricht das Gericht sie in allen Anklagepunkten frei – mangels Beweise. Und Irene Fernandez macht weiter. Sie gründet das malaysische AIDS-Komitee. Sie spricht Tabuthemen an, etwa die medizinische Versorgung von Prostituieren. Viele Frauen ohne Papiere enden im Sexgeschäft, sind Zuhältern und geldgierigen Polizisten ausgeliefert.
Und sie bringt die Gewalt, die Frauen erleben, auf den Tisch: „Wir hatten häufig erlebt, dass die Frauen in Fabriken, Plantagen und auch in den Familien Opfer von Gewalt geworden waren. Wir wollten die grundlegenden Ursachen der Unterdrückung von Frauen erforschen und etwas dagegen unternehmen.“ Am schutzlosesten sind die ausländischen Hausangestellten. Ohne Paß können sie weder Lohn noch einen freien Tag einklagen oder sich gegen Schläge und Vergewaltigung wehren. Irene Fernandez ruft für sie einen 24-Stunden-Telefon-Notdienst ins Leben. Inzwischen ist sie eine der bekanntesten Menschenrechtlerinnen Asiens.
Irene Fernandez hat erlebt, was Paulus als Schicksal der Dienerinnen und Diener Gottes schildert: Trübsal, Nöte, Ängste, Gefängnis und Verfolgung, Mühe, Wachen, Fasten, in dem Wort der Wahrheit, in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit, Ehre und Schande… (aus 2. Kor 6, 1-10)
Es liest sich beeindruckend, was er auf sich nimmt und was auch die Gemeindemitglieder in Korinth aus eigenem Erleben kennen.
Ich kann über so viel Mut nur staunen und weiß, dass ich ihn in der DDR nicht aufgebracht habe. Sie nehmen lieber persönliche Nachteile, ja körperliche Bedrohung in Kauf als ihre Überzeugung aufzugeben. Was brachte sie damals, was bringt Leute wie Irene Fernandez heute dazu, dass sie sich von solchen Schwierigkeiten nicht schrecken lassen? Wer im Jahr 2012 in Russland Umweltdaten veröffentlicht, in Syrien Fotos von Polizeieinsätzen ins Internet stellt oder in Uganda für die Menschenrechte von Minderheiten demonstriert, setzt viel aufs Spiel. Verglichen mit ihnen könnten wir völlig entspannt und angstfrei leben. Wir müssen uns nicht sorgen, dass wir ins Gefängnis wandern, wenn wir sagen und leben, was wir denken.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir deshalb authentischer und couragierter geworden sind und ob es uns leichter fällt, gegen Angst und innere Unfreiheit anzugehen. Wie lernen wir Mut?
Den wenigsten wird eine große Klappe in die Wiege gelegt. Nicht alle haben Eltern, die sie als Kinder in ihrer Eigenständigkeit bestärkt haben – im Gegenteil. Viel eher haben Kinder gehört, dass sie sich anpassen sollen und Rücksicht nehmen. Sie haben sich damit arrangiert, dass nicht so wichtig ist, was sie wollen und denken, weil andere es besser wissen. Wie sollten sie lernen, unerschrocken für sich und ihre Meinung einzustehen, wenn sie nie eine hatten und nie herausfinden durften, was sie selbst eigentlich wollen? Erziehung war für die vergangenen Generationen eher auf Anpassung und Unterordnung ausgerichtet. Auch die Kirchen haben mehr davon gepredigt, wie wir Leiden geduldig ertragen statt es überwinden können.
Im Evangelium haben wir heute von den Versuchungen von Jesus gehört: Brot – ein voller Bauch, ein dickes Polster. Wunder – Aufmerksamkeit und Anerkennung, Und als drittes die Verbeugung vor der Macht. Macht kann versuchen und verführen. Der Drang nach Macht kann Menschen so verbiegen, dass sie sich selbst nicht wiedererkennen. Doch ich denke, es gibt auch die Versuchung der Ohnmacht. Ohnmacht lähmt uns, sie nistet in Sätzen wie: Ich kann sowieso nichts verändern, ich bin ein zu kleines Licht, mein Beitrag fällt gar nicht ins Gewicht, die anderen denken nicht so wie ich, was würden die Leute denken, wenn ich auf einmal… Sich ständig anpassen und sich selbst unbedeutend machen ist zerstörerisch. Die Ohnmacht kultivieren und sich klein machen ist genauso eine Versuchung und Sünde wie Überheblichkeit.
Gott ruft uns, dass wir uns aufrichten und Verantwortung übernehmen. Könnten wir nicht Mut lernen, genauso wie wir lesen und schreiben lernen? Ich traue mir, ich selbst zu sein, jeden Tag neu. Ich bekomme heraus, was jetzt wichtig ist, für mich, für meine Umgebung. Ich spreche aus, was gesagt werden muß. Ich tue etwas. Für manche ist es ein großer Schritt, etwas für sich selbst zu einzufordern.
Viele Menschen, die etwas gewagt haben, sagen von sich: Ich bin gar nicht so mutig. Sie haben gesagt oder getan, was sie für richtig gehalten haben. Unsere Familien, unsere Gemeinden könnten Räume sein, in denen wir uns von solchen Erfahrungen erzählen und einander gegenseitig stark machen.
Inzwischen ist Irene Fernandez 65 Jahre. Amnesty International hält sie für eine der mutigsten Frauen Asiens. Was bewegt sie, trotz der ständigen Repressionen nicht aufzugeben? „Mein Traum“, sagt sie, „von einer gerechteren Gesellschaft für mich und meine Kinder. Und mein christlicher Glaube.“ „ Oft stellte ich mir eine fundamentale Frage: ‚Was würde Jesus tun, wenn er an meiner Stelle wäre?’ Ich fand die Antwort bei den Armen, Unterdrückten und Randgruppen. Mein Glaube an Gott und die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, waren die Quelle meiner Kraft, zogen mich weiter und waren meine Inspiration. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass wir nicht alleine sind. Es gibt Gott und es gibt die Gemeinschaft.“ (Arbeitsbuch zum Weltgebetstag 2012, S. 81)
Predigt am 26.2.2012 (Invocavit) über 2. Korinther 6,1-10
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