100 Jahre Gemeindehaus

Ich bin Remigius Gebigke. Unsere Familie hat dieses Haus 1578 bauen lassen. Mein Monogramm ist heute noch über der Toreinfahrt zu sehen. Wir konnten es uns leisten, so groß zu bauen und solide mit Stein und nicht etwa mit Lehm.
Mein Vater, Georg Gebicke, hat viele Jahre im Stadtrat gesessen. Ein paar Mal wurde er auch für ein Jahr zum Bürgermeister bestimmt. Sie leiteten den Rat immer zu zweit.
Die beiden Bürgermeister mußten sich um die Stadtmauern kümmern. Sie haben die Brunnen und die Archen kontrolliert, damit alle frisches Wasser hatten. Als Bürgermeister waren sie auch für die Armen zuständig, im Hospital St. Gangloff auf der Roseninsel. Und sie waren auch Stiftsinspektoren. Sie haben dafür gesorgt, daß die Alten im Stift St. Spiritus täglich warmes Essen bekommen haben und daß der Stiftsverwalter seine Arbeit ordentlich erledigte.
In meiner Jugend klingelte das Stadtsäckel. Weil wir Bergstadt waren, mußte die Stadt nur halbe Brausteuer an den Kurfürsten zahlen. Von weither reisten die Händler nach Sangerhausen zum Kornmarkt an. Wir waren für unser Getreide berühmt, übrigens auch für die Semmeln und das Brot. Darüber schreibt sogar die älteste Stadtchronik. Und über unser Bier. Das stieg nämlich nicht zu Kopfe (in Maßen genossen). Selbstverständlich hat meine Frau unser eigenes Bier gebraut. Daß dieses Haus Braurecht hatte, versteht sich von selbst.
Wenn nur die Pest nicht gewesen wäre! Am schlimmsten war es 1665.
Da sind in wenigen Monaten 1174 Leute gestorben, ein Drittel der Bevölkerung. Und dann standen viele Häuser leer.
Jeremia hätte seinen Brief in dieser traurigen Zeit auch an uns Überlebende schreiben können. Baut Häuser und wohnt darin. Pflanzt Gärten und esst ihre Früchte. Heiratet und bekommt Söhne und Töchter. Verheiratet eure Söhne und Töchter, so dass auch sie Söhne und Töchter bekommen. Vermehrt euch dort, werdet nicht weniger.“ Nach der Pest haben sich die Leute über jedes Kind gefreut, das geboren wurde und neues Leben in die Straßen brachte. Übrigens hat der Rat damals Geld eingeplant, daß die Mädchenschule ein neues Haus bekommen soll. Die Einweihung 1582 hat mein Vater leider nicht mehr erlebt, er ist 1577 gestorben. Suchet der Stadt Bestes, das war seine Aufgabe als Einwohner, als Ratsherr und Bürgermeister.
Den Grabstein von meinen Eltern könnt ihr in der Ulrichkirche bewundern. Da seht ihr sie sogar in Farbe.

Mein Name ist Günther, Ida Günther. Ich habe schon als Kind hier gewohnt und kann mich noch gut erinnern. Durch das große Tor rumpelten die Heuwagen. Für die Pferdeställe hinten im Hof brauchten wir viel Heu und Stroh. Gemüse und Kartoffeln wurden im Garten angebaut. Ich durfte die Hühner füttern. Manchmal habe ich auch beim Melken geholfen. Das haben sonst die Leute erledigt, die unter uns wohnten. Ich bin hier oben geboren und meine Eltern und meine Großeltern auch. Das Günthersche Haus war, seit ich denken kann, in Familienbesitz. Durch die Landwirtschaft hatten die Eigentümer solcher Grundstücke auch in schlechten Zeiten etwas zu beißen, auch wenn sie hauptsächlich als Handwerker oder Kaufleute tätig waren. Der 30-jährige Krieg, Einquartierungen, Plünderungen, Friedenszeiten – alles haben diese Steine erlebt. In diesem stolzen Bürgerhaus haben sich die Leute gestritten und versöhnt. Kinder wurden geboren, Alte zu Grabe getragen, fröhliche Familienfeste gefeiert und hart gearbeitet.
Als kleines Mädchen habe ich die Revolution von 1848 erlebt. 1847 war ein Hungerjahr. Die Hälfte der Kartoffeln verfaulte auf den Feldern. Die Leute streckten das Brot mit Queckenmehl. Dann kam heraus, daß der Bürgermeister öffentliche Gelder unterschlagen und einen privaten Neubau in seinem Garten mit Löhnen aus der Stadtkasse finanziert haben soll. Daß die Untersuchungen im Sande verliefen, erbitterte die Bevölkerung noch mehr und viele bewaffneten sich.
In den nächsten Jahrzehnten setzte ein Bauboom ein. Wegen der vielen neuen Fabriken zogen scharenweise fremde Leute nach Sangerhausen um. Alteingesessene Handwerker gingen jetzt arbeiten. Irgendwann kannte ich viele Gesichter gar nicht mehr. Vereine schossen wie Pilze aus dem Boden. Nach 1890 organisierten sich sogar die Arbeiter in der SPD, und mache forderten das Wahlrecht selbst für Frauen!
Heute, 1914, bin ich die letzte aus meiner Familie. Was soll dann aus dem Güntherschen Haus werden? Ich habe keine Kinder. Wie schön wäre es, wenn die Kirche das Haus bekäme. Da köntne neues Leben einziehen. In anderen Städten soll es jetzt Gemeindehäuser geben. Das wäre auch etwas für Sangerhausen. Vielleicht gründet die Kirche eine Frauenhilfe, die Mütter mit Neugeborenen unterstützt und ihnen Essen bringt. Oder einer der Gesangsvereine etabliert sich als Kirchenchor. In diesen Zeiten wandelt sich ja so viel. Bei den Kirchengemeinden findet dieses alte Bürgerhaus sicher einen neuen Zweck, der allen zugute kommt. „Suchet der Stadt Bestes.“ Dazu würde ich gern beitragen.

Ich bin Albrecht Gubalke. Ich bin 1920 als Pfarrer an die Ulrichkirche gekommen. So kurz nach dem Weltkrieg herrschte viel Elend. Zuerst habe ich im Morungshof eine Notstandsküche eingerichtet. Aber ich fand, daß sich auch das Gemeindehaus für soziale Zwecke öffnen sollte. 1924 weihte ich den Kindergarten ein. Für wohnungslose Familien ließ ich im Garten zwei ausgediente aufstellen. Ich habe eine Monatsschrift herausgegeben, die „Unruhe“. Darin habe ich für die Friedensbewegung geworben und über den Nationalsozialismus aufgeklärt, der in Sangerhausen immer mehr Zulauf bekam. „Ich bin jetzt dabei, Adolf Hitlers Buch ‚Mein Kampf‘ zu durchwaten. Es ist eine Qual, dieses Buch zu lesen. … Dieser Fall gehört vor das Forum einiger tüchtiger Psychotherapeuten.“
Damit habe ich mir nicht viele Freunde gemacht. 1931 schickten die Nazis sogar einen Reichsredner und einen bayrischen Gauleiter nach Sangerhausen, um Stimmung gegen mich zu machen. Im Frühjahr 1933 wurde ich im Stadtrat und in der Zeitung angegriffen. Die Kirchenleitung hat mich im Sommer beurlaubt. Mein Amtskollege, Pfr. Nitschalk, hat sich von mir distanziert und die meisten anderen auch.
Da haben wir die Bekennende Kirche gegründet. Wir waren so 20, 30 Leute, Buchhändler Alban Hess, Gemeindesekretärin Gertrud Trautmann, Kaufmann Johann Grötzinger, später auch Pfr. Ernst Orphal. Im Gemeindehaus durften wir bald keine Bibelstunden mehr halten. So trafen wir uns im Pfarrhaus Markt 22. Als ich 1939 endgültig aus meiner Dienstwohnung geworfen wurde, zog ich nach Naumburg und starb 1943, im selben Jahr wie Pfr. Orphal. Die Bekennende Kirche in Sangerhausen wurde von mutigen Gemeindemitgliedern weiter getragen. Suchet der Stadt Bestes und betet für sie, das haben wir getan, unter Anfeindungen und Verfolgung. Auch wenn wir wenige waren, wir haben in dunkler Zeit ein Zeugnis für Frieden und Versöhnung und Wahrheit abgegeben.

Ich bin Gertrud Trautmann und habe in der Voigtstedter Str. 3 gewohnt. Seit den 30-er Jahren war ich Gemeindesekretärin. Ich habe Pfr. Orphal den Rücken gestärkt und habe die Bekennende Kirche unterstützt. Wie habe ich mit ihm gezittert bei den Hausdurchsuchungen in seinem Pfarrhaus!
Nach 1945 habe ich dafür gesorgt, daß die Erinnerung an den Widerstand nicht verlorenging. Hier unten im Gemeindehaus war damals das Kreiskirchenamt, dort habe ich auch als Rendantin gearbeitet und habe die Kirchensteuern kassiert. Über all die Jahrzehnte wußte ich in den beiden Gemeinden besser Bescheid als die Pfarrer, die ja immer wieder wechselten.
Lange Jahre habe ich zusammen mit Alban Hess im Gemeindekirchenrat der Jacobigemeinde gesessen. Als Ende der 50-er Jahre immer mehr Konfirmanden an der Jugendweihe teilgenommen haben, haben wir viel diskutiert, wie die Kirchen sich in der DDR verhalten sollen.
Im Gemeindehaus haben wir über Themen geredet, über die sonst geschwiegen wurde: unfreie Wahlen, politischer Druck, besonders in den Schulen, Propaganda der Partei, die Volksarmee. Wir haben durch die Jugendweihe viele Mitglieder verloren, aber es wuchs auch Neues. Jugendliche kamen zur Jungen Gemeinde. Herbert Gerhardt hat den Posaunenchor gegründet. Der Kindergarten im Hof behauptete sich gegen alle Schließungsversuche durch den Staat.
Der Bibelvers von Jeremia hat in der DDR-Zeit eine große Rolle gespielt: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zu Gott; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“ Die hohlen Phrasen vom Sozialismus waren für uns unglaubwürdig. Aber für die Gesellschaft einsetzen, das haben wir als gemeinsames Anliegen erkannt.

Ich bin eine von den Jugendlichen, die bei den Jugendmusiktagen 1979 in Sangerhausen dabei waren, 1800 Jugendliche aus der halben Republik, viele sie getrampt. „Kunden“ sagten wir damals, die meisten in Jesuslatschen oder Schlapperkleidern. Hier im Saal haben wir übernachtet, mit Fettbrot und Tee. Es war chaotisch und unvergeßlich. Auf diese Weise bin ich zur Gemeinde gekommen. Die Stasi hat das Treffen natürlich überwacht und in den Akten festgehalten. Offene Arbeit war denen suspekt, vielen in der Kirche leider auch.
Viele aus meiner Klasse wollten weg aus Sangerhausen, nach Halle oder Jena oder ganz in den Westen. Zu den Bausoldaten gehen oder zur Armee, vor dieser Entscheidung standen die Jungs. Wir müssen den Sozialismus gegen seine Feinde verteidigen, hieß es in der Schule. Die Eltern haben oft nur gesagt: Verbau dir deine Zukunft nicht. In der Jungen Gemeinde haben wir über uns selbst diskutiert, über Gewissen und christliche Verantwortung. Die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ haben uns angeregt.
Einer hat sogar bei Nacht und Nebel eine Aktion auf dem Markt riskiert. Mit einem Malerpinsel hat er an die Hauswand von Markt 11 geschrieben „Frieden schaffen ohne Waffen – in Ost und West“. Die Stasi hat nie herausgekriegt, wer es war.
Dann kam die Wende. Am 16. Oktober 1989 hatten sich engagierte Leute im Pfarrhaus Alte Promenade getroffen. Eine Woche später, am 24. Oktober, sollte im Gemeindehaus die erste öffentliche Versammlung des Neuen Forums stattfinden. 400 Leute kamen an diesem Dienstag. Dafür war der Saal natürlich viel zu klein, und wir sind in die Jacobikirche umgezogen. So sind die Dienstags-Demos entstanden.
Ich finde es gut, daß das Gemeindehaus nicht nur für Gottesdienste da ist. Auch viele Gemeindemitglieder bringen sich inzwischen ja in das Leben der Stadt ein. Die Leute nehmen wahr, ob wir uns einigeln oder ob wir den Mund aufmachen, wenn es um Gerechtigkeit geht, um Demokratie oder Fremdenfeindlichkeit. Kirche muß Gesicht zeigen. „Suchet der Stadt Bestes“, das ist eine Aufgabe für uns alle.

Predigt durch die Geschichte des Gemeindehauses mit 5 Personen am 28.2.2016 über Jeremia 29,4-7

So spricht Gott zu den Weggeführten, die ich aus Jerusalem in die Verbannung nach Babel geführt habe: Baut Häuser und wohnt darin. Pflanzt Gärten und esst ihre Früchte. Heiratet und bekommt Söhne und Töchter. Verheiratet eure Söhne und Töchter, so dass auch sie Söhne und Töchter bekommen. Vermehrt euch dort, werdet nicht weniger.Suchet der Stadt Bestes, in die ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zu Gott; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.

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