Gerade einmal 30 Jahre war es her, dass Christoph Kolumbus weit im Westen des Atlantiks auf Land gestoßen war: Amerika. Seit 1492 segelten Schiffe über die Meere. Dort lebten die Indianer, die Wilden, die Heiden, und Europa glaubte, sie „entdeckt“ zu haben – auch wenn die Menschen dort schon lange wohnten und es gar nicht nötig hatten, „entdeckt“ zu werden.
Die Eroberung Amerikas bedeutete auch den Beginn der sogenannten Heidenmission. Damit begann zugleich eine beispiellose Geschichte voller Gewalt, Blut und Tränen. Völker wurden versklavt, ihre Kulturen zerstört, ihr Eigentum ausgebeutet und ausgeplündert.
Von sagenhaften Reichtümern drang die Kunde über den Atlantik, von Goldschätzen, von einem wahren El Dorado, als Luther 1524 sein Lied schrieb. Oder besser gesagt aus dem Lateinischen übersetzte.
Veni redemptor gentium – komm, Erlöser der Völker, hatte Bischof Ambrosius von Mailand um 386 gedichtet. Einen Erlöser, den können viele Völker gut gebrauchen, bis heute. Daß sie erlöst werden von der Abhängigkeit von Banken und Konzernen, vom Druck der Großmächte, von den Schulden. Ein Erlöser, mit dem zusammen sie die Diktatoren verjagen. Ein Erlöser, der das Land von Heuschrecken, Rohstoffjägern und Saatgutkonzernen befreit, damit sie wieder sanft mit der Erde umgehen können. Komm, Erlöser der Völker. Veni redemptor gentium.
Martin Luther macht daraus einen Heiland der Heiden. Das klingt anders, finde ich. Abwertend. Heiden sind die anderen, die Fremden und Unterentwickelten. Heiden fehlt es am richtigen Glauben, an der Erleuchtung. Den Heiden soll die Bibel gebracht werden. Von gleichen Rechten ist keine Rede.
Vom Erlöser der Völker zum Heiland der Heiden – Luthers Lied wurde für mehrere Jahrhunderte zum wichtigsten Adventslied im evangelischen Raum. Seit der Barockzeit ist es in vielen Choralbearbeitungen und Kantaten verarbeitet worden, nicht nur von J. S. Bach. Während der Wind immer größere Segelschiffe mit Kolonialwaren und Sklaven über die Weltmeere trieb, wurde in den Kirchen das Lied vom Heiland der Heiden angestimmt.
Wahrscheinlich war den Pfarrern nicht bewußt, daß Jesus das wirklich ist, der Heiden Heiland – wenn auch auf ganz andere Weise, als sie es sich hätten vorstellen können. Zu den Heiden, den Ausgestoßenen gehört er ja hin. Er hat sich zu den Menschen gestellt, die draußen waren und abgehängt. Er war selbst einer von ihnen, den Armeleutekindern und Flüchtlingen.
In meiner Kinderbibel sah Jesus jung und schlank aus, großgewachsen und – natürlich – weiß, genau wie das Idealbild von Männern in den 30-er Jahren und in der Nazizeit. In Filmen heute unterscheidet er sich kaum von einem Hollywoodstar.
Doch als Heiland der Heiden verändern sich seine Gesichtszüge. Er trägt das gewebte bunte Gewand der Mayas oder den melonenförmigen Hut der Andenbevölkerung. Er eilt mit Flip-Flops und Sarong zwischen den vielen Tuk-Tuks durch die den staubigen Straßen Asiens. Er streckt uns zwischen den bettelnden Alten die faltigen Hände entgegen. Er humpelt an Krücken und sitzt im Rollstuhl.
Der Heiland der Heiden ist aus den goldgeschmückten Kirchen der Kolonialherren ausgezogen. Er ist hinausgegangen auf die Straßen und an die Zäune. Er wohnt nah bei den Menschen. Er ist farbig, alt, behindert, arm. Er leidet mit ihnen, er hofft mit ihnen, er kämpft mit ihnen gegen Rechtsbruch und Vergewaltigung. Er tanzt und feiert mit ihnen.
Das können wir von den „Heiden“ lernen, zu denen die Schiffe vor 500 Jahren aufgebrochen sind. Sie haben in den letzten Jahrzehnten tatsächlich unseren Blick verändert. Bei den Weltgebetstagen bekommen wir mit, wie anders die Bibel in anderen Kulturen klingt – und wie lebensnah ihre Geschichten auf einmal werden. Die Kirchen der Ökumene erinnern uns daran, wie die Bitte um die Vergebung der Schulden und das Ringen um Schuldenerlass Hand in Hand gehen. Die Diakonie führt uns zu den Straßenrändern und Zäunen in unserem Land, an denen wir Jesus entdecken können. In Heimen wohnen nicht nur Obdachlose, Alte oder Suchtkranke. Hier wohnen Trost und Barmherzigkeit. In Tafeln wird Brot geteilt.
Heute im Krippenspiel spielen behinderte Kinder und Jugendliche aus dem CJD die Hauptrollen. Der Engel kann nicht lesen und nicht schreiben. Aber er sagt: Fürchtet euch nicht. Und wir werden die Freude von Josef sehen, der das Kind in seinen Armen wiegen darf.
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