Mutig Fehler machen

Wie viele Fehler haben Sie dieses Jahr gemacht? Ich meine nicht die ganz tragischen, das Haus abfackeln oder so, Ich meine eher die alltäglichen Fehler, die großen und kleinen, die im Laufe der Zeit zusammenkommen. Welche, wieviele mögen es in diesem Jahr wohl gewesen sein?
Ich trage einen Termin falsch im Kalender ein. Ich übe neunundneunzigmal und verspiele mich beim hundertsten Mal doch. Ich kaufe, was sich als unpraktisch herausstellt. Oder umgekehrt: ich lasse etwas im Geschäft liegen und denke, ich brauche es nicht, und ärgere mich hinterher hundertmal, daß ich es nicht gekauft habe. Ich trete in ein Fettnäpfchen. Ich verspreche etwas, was ich nicht einhalten kann.
Solche Fehler passieren immer wieder. Das meiste ist im Grunde nicht so schlimm und bietet manchmal sogar Stoff für Anekdoten, die noch nach Jahrzehnten auf Familienfeiern für Erheiterung sorgen.

Daß uns Fehler unterlaufen, gehört zum Leben dazu. Niemandem gelingt alles. Trotzdem stellen sich viele unter den Druck, daß sie alles richtig machen. Jedes Detail muß stimmen. Doch nur besonders begabten oder starken Naturen gelingt das – fast. Alle anderen scheitern an solchen Ansprüchen. Manche trauen sich dann gar nichts mehr. Sie haben Angst, daß sie versagen und das Gesicht verlieren. Aber das Unvollkommene macht uns erst menschlich. Es kann sogar eine Brücke sein und den Weg zueinander ebnen, wenn das Gegenüber merkt:  der oder die ist nicht so perfekt, wie ich dachte.

Wer sich traut, Fehler zu machen, lernt dabei. Kinder probieren einfach aus, und wenn es nicht klappt, versuchen sie es auf einem anderen Weg. Die Wissenschaft lebt von Versuch und Fehlern.
Fehler sind eine Chance. Wir lernen. Wir entdecken. Wir bereuen. Wir überwinden uns, von vorn anzufangen. Wir entwickeln Mitgefühl mit denen, die ähnliche Probleme haben, und können uns besser in andere hineinversetzen. Wir lernen bescheiden sein. Wir trainieren die Zuversicht, daß es immer eine Lösung gibt, einen Ausweg, auch wenn er manchmal ganz anders aussieht, als wir es uns gedacht haben.

Ich lese aus einem Resümee, das dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges zugeschrieben wird: „Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich würde mehr riskieren … Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich vom Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen. Und ich würde mehr mit Kindern spielen …“ *

Es entlastet, wenn wir unvollkommen sein dürfen. Wie wir damit umgehen, wie wir mit Fehlern umgehen, hängt auch von unserer Umgebung ab. Ein Kind, das nie versagen darf, wird sich zeitlebens Übermenschliches abverlangen. Unsere Gesellschaft ist auf Effizienz und Leistung getrimmt. Immer mehr Menschen halten diesem Druck nicht mehr stand und werden seelisch krank; viele schaffen es nur noch auf geschützten Arbeitsplätzen in Werkstätten für behinderte Menschen. Das Nicht-Perfekte und die Nicht-Perfekten werden aussortiert. Damit zerfällt nicht nur die Gesellschaft. Damit schaden wir langfristig uns allen. Weiterführender wäre es, wenn es uns gelingt, das Fehlerhaft-Sein als Teil unseres Miteinanders, des Zusammenlebens und –arbeitens zu betrachten.

Wenn wir selbst damit anfangen, wirkt das nach außen weiter. Unsere Familien, unsere Kirchengemeinden sind gute Erprobungsräume. In einem freundlichen und gelassenen Klima gelingt das besser. Wenn wir Neues ausprobieren, müssen wir nicht erwarten, daß es beim ersten Mal klappt. Wenn jemand krank wird, wenn jemand ausfällt, bleibt auch einmal etwas liegen und findet nicht statt. Vielleicht  wächst stattdessen eine Idee für etwas ganz anderes –und diese Idee bekommt gerade dadurch eine Chance.

Gott hat eine wundervolle, faszinierende Welt geschaffen. Aber sie ist nicht fertig. Sie ist nicht perfekt. Sie ist verletzlich und zerbrechlich. Sie ist bunt und chaotisch. Wir dürfen und sollen sie weitergestalten. So ist es auch mit unserer Zeit und mit dem Jahr, das wie ein Geschenk vor uns liegt. Es ist noch neu und unvollkommen und unfertig. Wir können das Jahr nehmen und gestalten, auf unsere Weise. Indem wir etwas daraus machen, wird es unverwechselbar. Wir werden wachsen und sterben in diesem Jahr. Wir werden fallen und wieder aufstehen. Wir werden planen und vor Überraschungen stehen. Wir werden lachen, weinen und lernen.  Ganz bestimmt kommen wir durch unsere Fehler weiter als auf den schönen, glatten Wegen, die wir uns so perfekt ausgedacht und angelegt haben. Gott versteckt sich für uns. Gott möge uns begleiten, trösten, zum Lachen bringen und segnen.

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*  Ob Jorge Luis Borges (1899 – 1986) die Worte verfaßt hat, ist umstritten. Das vollständige Zitat lautet:

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben;
nur aus Augenblicken.
Vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an
bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt Und weiß, dass ich bald sterben werde.

 

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