Vor mir steht ein Kelch. Bei festlichen Gelegenheiten trinken wir aus besonderen Gefäßen. Unsere Vorfahren hatten Hochzeitspokale. Die mussten Braut und Bräutigam gemeinsam leeren. Zünfte und Innungen haben sich kunstvolle Zunftpokale anfertigen lassen. Wenn ein Ehrengast kam, wurde ein besonderes Gefäß zum Willkommen überreicht. Ein Kelch erinnert an die Höhepunkte im Leben, an die Stunden des Glücks.

Er steht für die Fülle des Lebens. Ich denke an Erlebnisse, die wir im Laufe der Jahre hatten, an Begegnungen, die das Herz erfüllen und uns reich machen.
Dieser Kelch hier war zerbrochen. Jahrelang lag er im Tresor, in einer Kiste schepperten zwei graue Stücken Metall hin und her, fleckig und unansehnlich.
Der Kelch war so zerbrochen wie manchmal die Seelen wundgescheuert sind. Menschen verlernen zu lachen, verlieren ihre Leichtigkeit und werden zu grauen Mäusen, weil das Traurige sie von innen auffrißt. So unscheinbar und stumpf und kaputt war dieser Kelch. Nie hätte ich geglaubt, daß er so strahlen könnte, wie Sie ihn heute sehen.
Der Metallrestaurator hat ihn repariert und poliert. Jetzt glänzt er wie neu. Aus dem zerbrochenen Kelch ist wieder ein Schmuckstück geworden. „Der Kirchen zu St. Jacob in Sangerhausen. A. 1676“ verrät die Aufschrift auf dem Fuß. Was mag er erlebt haben in seinen 341 Jahren?
1675, ein Jahr zuvor, haben wir die Abendmahlskanne und den großen Kelch bekommen, die Sie auf dem Altar sehen. Johann Mogk und Anna Margarete Mogk haben sie gestiftet. Mogks waren eine alteingesessene und weiterzweigte Sangerhäuser Familie. Die Mogkstraße erinnert an sie. Tuchmacher und Bürgermeister stammen aus ihr, auch ein Pfarrer und Kaufleute wie Johann: Der war in seinen jungen Jahren nach Eisenach gegangen und hatte dort die Kaufmannstochter Anna Margarete Öhlkinghausen kennengelernt. Mit ihren Kindern zogen sie zurück nach Sangerhausen. Johann wurde Bürgermeister. 1675 stifteten das Paar Kelch und Kanne.
War eine/r von beiden von einer schweren Krankheit genesen? Gab es einen Schicksalsschlag oder ein Jubiläum, eine Familienfeier? Was auch immer der Hintergrund war – 1686 stiftete Anna Margareta ein weiteres Stück. Sie ließ ein Kästchen umarbeiten und ein Kreuz aufsetzen Vielleicht war es ihre Zuckerdose. Das ist jetzt unsere Hostiendose – „ A.M.M. 1686“. 1686 hätte der Anlaß ein runder Geburtstag sein können: Vielleicht feierte sie 50. Ihr Mann Johann jedenfalls wurde 65.
Und zwischen diesen kostbaren silbernen Gegenständen steht nun unser Kelch, der, dessen Bruchstücke später so lange Jahre unbeachtet in der Kiste herumkullerten. 1676. Waren es auch Mogks, die ihn stifteten?
Kelch des Leids. Sie alle haben Menschen verloren. Hinter Ihnen liegen Monate, ein Jahr der Trauer. Die Zeit ist nicht wiederzubringen. Der Kelch erinnert an das, was Sie verloren haben. Der Junge, der mit 18 Jahren begraben wird. Die Frau, die mit 91 Jahren stirbt. Jeder Tod ist ein Abschied und tut weh. Der bittere Kelch ist Ihnen nicht erspart geblieben.
Im Nazigefängnis dichtete ein 38-jähriger zu Weihnachten 1944: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.“ (EG 65, Dietrich Bonhoeffer). Ein paar Monate später wurde er ermordet. Trotzdem bettet er seine Verse ein in die Worte: Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.
Trauer und Trost. Das lag auch bei den Mogks, dem Stifterpaar, dicht zusammen. Im Jahr, nach dem Johann Mogk starb, heiratet sein Sohn Caspar Jacob. Auch er ist ein geschickter Kaufmann und seine Braut eine bildhübsche, junge Bürgermeisters- und Kaufmannstochter aus Frankenhausen. Bald sind die jungen Leute die reichsten und einflussreichsten Kaufleute in Sangerhausen. Sie ziehen in eins der ersten Häuser auf dem Markt, Markt 17. Caspar wird Kammerkommissionsrat. Aber Kinder bekommen sei keine. Auf ihrem Epitaph hinter mir heißt es: „Doch blieb ihr langwieriger und vergnügter Ehestand ohne Kinder.“ Wer würde einmal erben? Für wen lohnte sich die ganze Mühe?
Am Ende gingen Mogks stiften. Sie spenden einen Großteil ihres Reichtums für öffentliche Zwecke, für die Kirche, für Bildung, für die Waisenhausstiftung. Sie haben keine eigenen Kinder. Aber sie sorgen dafür, dass andere Kinder Förderung und ein Zuhause finden.
Trauer und Trost. Der Kelch aus der Zeit ihrer Eltern (oder sogar aus deren Vermögen) steht für beides. Die Narben, an denen er zusammengefügt ist, sind zu sehen. Sie gehören zu seiner Geschichte wie unsere Narben zu der unseren. Heute strahlt und blinkt er und lädt uns ein zum Abendmahl.
Denn er ist auch ein Sinnbild für Gemeinschaft. Jesus hat beim Passamahl den Becher mit Wein mit seinen Jüngerinnen und Jüngern geteilt. So wie sie haben aus diesem Kelch über Jahrhunderte hinweg Menschen getrunken. Sie sind in glücklichen Momenten gekommen, voller Hoffnung und Freude, und in den schweren, mit Tränen in den Augen. Er verbindet die Generationen, die Lebenden, die Toten und die, die nach uns kommen. Er verbindet uns mit Jesus. Heute am Totensonntag 2017 sind wir es, die daraus trinken, das erste Mal seit vielen Jahren. Jesu Liebe und Trost sei mit uns.
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Predigt: Der barmherzige Samariter
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Spielszene: Caspar Jacob Mogk und Elisabeth Doetzschel – ein vergnügter Ehestand
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