Jack & Joe. Auf Spurensuche zu Jacobus

Mein Bruder und ich. Haben Sie Geschwister, mit denen Sie durch dick und dünn gegangen sind? Oder welche, die Ihnen immer voraus waren? Jacobus kommt nie allein. Jacobus und Johannes werden im Neuen Testament meist die Söhne des Zebedäus genannt. Wo von dem einen die Rede ist, ist auch der andere nicht weit. Sie gehören zu den ersten Schülern von Jesus und später zu den führenden Köpfen in der ersten Gemeinde. Wie Zwillinge tauchen sie überall auf, meist noch zusammen mit Petrus. Jesus wählt die drei aus, als er auf den Berg der Verklärung steigt und Mose und Elia erscheinen. Er bittet die drei, ihm nah zu sein, als er im Garten Gethsemane mit Gott ringt, bevor der verhaftet wird. Die Brüder teilen mit Jesus die Höhen und Tiefen. Sie und ihre Mutter stehen Jesus tatsächlich sehr nah.

Sie sind mit ihm so vertraut, daß sich die Frage nach der Macht stellt. Begründet Nähe Einfluß und Vorrechte und Macht, so wie in einer Parteizentrale jemand in den Führungszirkel aufgenommen wird? Jemand Jüngeres rückt nach und wird zum Kronprinzen, zur Kronprinzessin aufgebaut. Das ist üblich in der Politik und festigt die eigene Machtbasis. Es soll das Machtvakuum verringern, das beim Rückzug oder Tod entsteht. Es kann Intrigen oder Umstürzen vorbeugen, wenn schon ein*e Nachfolger*in bereitsteht.
Jacobus und Johannes wünschen sich, daß ihre innere Nähe zu Jesus sie offiziell auf den Beraterstuhl neben ihm bringt und daß er ihnen diese Rolle bis in alle Ewigkeit garantiert. Wir wollen zu deiner Rechten und zu deiner Linken sitzen. Auch hier treten die beiden im Doppelpack auf, einmal sogar unterstützt von ihrer Mutter.
Jesus läßt sich darauf nicht ein, im Gegenteil. Bei euch soll es anders zugehen, schreibt er seinen Schüler*innen ins Stammbuch. Keine Macht für niemand. Wer herrschen will, soll dienen (Mk 10,35-45).

Ob die Brüder es sich zu Herzen genommen haben? Feuer vom Himmel wünschen sie einem Dorf, in dem sie keine Unterkunft gefunden haben (Lk 9,54). Donnersöhne nennt Jesus sie auch (Mk 3,17). Feinde lieben, Geduld und Sanftmut üben scheinen für sie eine schwierige Lektion gewesen zu sein, genauso wie für viele Kirchen, die nach ihnen benannt wurden.

Während die Brüder am Gründonnerstag im Garten Gethsemane eingeschlafen sind, als Jesus ihre Nähe und ihre Gebete brauchte, hält ihre Mutter am Karfreitag Jesus die Treue. Unter den Augen der Soldaten  wagt sie sich mutig zur Hinrichtungsstätte des Staatsverbrechers und harrt bis zuletzt bei dem Sterbenden aus (Mt 27,56).

Nur der Vater hält sich zurück. Er beteiligt sich offensichtlich nicht in der Jesusbewegung, in der seine Frau und seine Söhne aktiv sind. Dabei dreht sich alles um seinen Namen: die Söhne des Zebedäus, die Mutter der Söhne des Zebedäus. Auch wenn er nicht mitmacht – er dominiert im Hintergrund.

Die Familie gehört zu den Fischersfamilien am See Genezareth. Dort haben sie ihren Liegeplatz und besitzen ein Boot in der Nachbarschaft der Familie von Petrus und Andreas. Als Vater und Söhne im Boot beim Netzflicken saßen, ging Jesus vorbei und rief Jacobus und Johannes zu sich. Die Brüder verließen sofort das Boot und ließen ihren Vater zurück, heißt es im Matthäusevangelium (Mt 4,22). Hat Zebedäus sie ohne Kommentar ziehen lassen? Hat er um sie gekämpft? Haben die Brüder schon länger von einem anderen Leben geträumt, ohne Vater, ohne die mühsame Arbeit des Fischens? Haben sie sich vorher schon entfremdet oder sogar gestritten? Und wann ist ihre Mutter gegangen? Zebedäus wird zum verlassenen Vater.
Eine Familie teilt sich. Und rückt noch enger zusammen. Mutter und Söhne zieht es gemeinsam zu neuen Ufern, zu anderen Ufern als denen des Sees Genezareth. Mutter und Söhne halten zusammen, entdecken die gleiche neue Welt des neuen Rabbi.

Jack & Joe. Der Große und der Kleine. Geschwister kennen das: Bist du nicht der Bruder von … ?  Kinder kennen es auch: Ist deine Mutter nicht die … ? Geschwister oder Eltern haben, die jemand kennt, kann eine Tür öffnen. Ein großer Bruder, eine große Schwester hinterläßt eine Spur, die es den Kleineren leichter macht. Manche schildern stolz, wie sie als Geschwister gemeinsam durch dick und dünn gezogen sind.
Andere berichten eher vom Gegenteil. Sie wurden immer an ihren Geschwistern gemessen. Sie waren ewig die Nummer 2, die kleinere Ausgabe,  und hatten es schwer, aus ihrem Schatten herauszutreten. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder. Oder sie müssen sich abgrenzen vom Ruf, der  ihren Eltern vorauseilt. Nicht nur Töchter und Söhne berühmter Eltern haben damit zu kämpfen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Sei es daß Eltern extreme Ansichten und deshalb ihren Ruf weg haben, sei es daß sie sich besondere Hochachtung erworben haben, sei es daß sie als Außenseiter gemieden werden – ein Kind wird erst einmal bei seiner Familie eingeordnet.
Dieser Effekt läßt sich sogar in der Schule nachweisen und behindert die berufliche Entwicklung, jedenfalls im deutschen Bildungswesen. Kinder von Eltern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen bekommen bei gleichen Leistungen seltener Laufbahnempfehlungen für das Gymnasium als Kinder aus Akademiker*innenhaushalten.

Was mag Zebedäus für ein Mensch gewesen sein, daß Jack & Joe bis an ihr Ende die „Söhne des Zebedäus“ bleiben, auch wenn sie offenkundig völlig andere Wege gehen als ihr Vater?

Familie bedeutet beides: Sie birgt und hilft und schützt und zugleich engt sie auch ein. Die Eierschalen abwerfen und eine eigene Persönlichkeit entwickeln, das müssen zweifellos alle. Wohl denen, die Eltern und Geschwister haben, die einander loslassen und freigeben können.

Wie war es bei Jacobus und Johannes? Das erste Mal, an dem Jacobus allein erwähnt wird, ist sein Tod. Und es bleibt das einzige Mal. Jacobus stirbt einen gewaltsamen Tod. Er wird ohne Gerichtsurteil hingerichtet. Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu mißhandeln. Er tötete Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.“ (Apg 12,1 f.)
Ist es so, daß die Brüder erst aus ihrem gegenseitigen Schatten treten, als Jacobus ermordet wird? Muß erst einer von ihnen sterben, damit sie beide als eigenständige Persönlichkeiten sichtbar werden?

Jedenfalls: die Gebeine von Jacobus werden später der Gegenstand vieler Legenden. Sie gelangen, so wird erzählt, nach Spanien, und Santiago de Compostella entwickelt sich zu einem der drei wichtigsten Pilgerorte des Mittelalters. Mit dem Tod beginnt, überspitzt, die „Karriere“ von Jacobus. Die maurische Kultur auf der iberischen Halbinsel bringt eine einzigartige Blütezeit in Spanien hervor. Das Miteinander aus Islam, Christentum und Judentum befruchtet die Medizin, Architektur, Astronomie und Philosophie und zieht Künstler*innen und Wissenschaftler*innen an. Pilger*innen verbreiten ihre Kunde in der Heimat und bringen ihre Errungenschaften in alle Ecken Europas. Die Verehrung von Jacobus wurde auch mißbraucht, um die Muslime und dann die Juden aus Spanien zu vertreiben. Im 20. Jahrhundert hat General Franco ihn für die Durchsetzung seiner Militärdiktatur vereinnahmt.

In unserer Kirche weist verschiedenes auf unseren Namenspatron hin. Der Schlußstein im Gewölbe über dem Altarraum zeigt ihn mit der Pilgermuschel. Wer hier getauft, konfirmiert oder getraut wird, erhält eine Urkunde mit Jacobus im Siegel. Seit dem Februar läutet aller Viertelstunde die neue Glocke mit dem Bild des Jacobus. Die Skulptur des Pilgers von Thomas Wellner erinnert uns daran, daß wir uns nicht zu sehr festsetzen im Leben. Wenn wir das überflüssige Gepäck ablegen, können wir leichter losgehen. Wir können aus dem Schatten und den Erwartungen anderer heraustreten und uns wandeln zu denen, die wir sind.

Predigt zum Jacobustag am 25. Juli

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