Blut ist doch dicker als Wasser, fuhr es Abel noch erstaunt durch den Kopf. Da traf ihn der Schlag auf den Kopf und er brach zusammen. Aber es war keineswegs dicker. Ein dünnes Rinnsal floß aus seinem Kopf und versickerte im Acker.
Es war das einzige, was von dem Toten blieb. Niemand hatte die Tat gesehen. Niemand konnte etwas beweisen. Gott war der einzige Zeuge. Und nur Gott hörte, wie das Blut zum Himmel schrie.
Traurig geht es in dieser Familie zu. Der Ältere schlägt den Jüngeren. Er mißhandelt ihn so sehr, daß er stirbt. Woher kommt dieser Haß? War der Jüngere geschickter? Hat Abel den älteren Bruder immer wieder überrundet und wie dumm dastehen lassen? Hat er ihn ausgetrickst oder hatte Kain das Gefühl, daß der Kleine ihm die Liebe der Eltern gestohlen hat? Selbst Gott beachtete dessen Opfergabe, während er die von Kain nicht würdigte. Nicht beachtet werden – das war der letzte Auslöser, daß Kain beschloß, ihn ein für allemal aus der Welt zu schaffen.
Und Abel? Was bedeutete ihm sein großer Bruder? Schaute er als Kind zu ihm auf, versuchte ihm alles nachzumachen, spielte er ihm Streiche oder mußte er sich vor ihm ducken und in Acht nehmen?
Daß es mit den beiden Brüdern so endete, hat sich niemand gewünscht. Von einer glücklichen Familie träumen schließlich alle. Eltern haben sich lieb und sorgen für ihre Kinder. Geschwister verstehen sich. Enkel wachsen heran, erfreuen die Älteren und weisen als neue Generation in die Zukunft. Glücklich, wer es so erlebt.
Die Wirklichkeit sieht oft anders aus. Kinder haben (machen?) Probleme. Gestreßte Eltern stellen fest, daß sie völlig unterschiedliche Vorstellungen in puncto Haushalt, Freizeitgestaltung oder Benimmregeln haben. Krankheit eines Mitglieds belastet die ganze Familie. Es wird um das Geld gestritten. Neue Familienmitglieder bringen ganz andere Prägungen und Gewohnheiten mit. Alkohol. Verlust des Arbeitsplatzes. Ein Kind stirbt. Kinder wollen nichts mehr von ihren Eltern wissen. Eltern lehnen ihre Kinder ab. Das kann das Zusammenleben schon vor Herausforderungen stellen.
Die Bibel erzählt, daß es schon in der ersten Menschheitsfamilie nicht so harmonisch zuging, wie es sich alle ersehnen. Im Gegenteil, die Spannungen in ihr wurden so groß, daß sie sich in einem Totschlag entluden.
Warum gerade bei uns, werden sich Adam und Eva gefragt haben, und was haben wir bloß falsch gemacht. Oftmals gibt es keine Erklärung. Das ist schwer auszuhalten, besonders wenn nebenan lauter wohlgeratene Kinder, Schwiegerkinder und Enkelkinder gedeihen.
Abel wurde ein Opfer von Gewalt in der Familie. Was hinter der Wohnungstür passiert, bleibt oft verborgen. Eifersucht zwischen Geschwistern. Bevorzugung, Haß, Mißbrauch, Abhängigkeit. Widerstreitende Gefühle. Wer kann von außen schon hineinsehen, was in einer Familie tatsächlich vorgeht? Wie es um die Beziehung der Familienmitglieder untereinander bestellt ist, ist den Beteiligten oft selbst nicht klar. Erst nach jahrelangen Therapien gelingt es, das Gefühlswirrwarr zu ordnen und die Fäden zu entwirren. Und wie bei Abel ist der Täter selten der unbekannte Mann, der Kindern Gewalt antut. Öfter ist es der Bruder, der Vater, der Onkel. Und öfter sieht niemand hin, jahrelang.
Auch Abels Tod hat niemand gesehen, und es hat ihn niemand vorhergesehen. Doch Gott ist es, der es sieht. Er hört Abels Blut schreien. Er nimmt Kain in die Verantwortung. Er mutet ihm eine Strafe zu. Die Tat wird ihm immer anhängen. Kain bleibt gezeichnet für immer. Übrigens schützt Gott Kain zugleich. Kein Dorf soll mobil machen, wenn sich Straftäter niederlassen, die ihre Strafe abgesessen haben. Kain soll nicht dem Zorn und der Rachsucht der Menschen ausgeliefert sein. Auch für ihn bleibt die Chance eines neuen Anfangs.
Die Bibel erzählt in ihren ersten elf Kapiteln Geschichten, die Grundfragen und Grundprobleme der Menschen anreißen. Wir sind Gottes Ebenbilder, Gottes Atem weht in uns. Wir sind gesegnet und haben den Auftrag, die Schöpfung weiterzugestalten. Die Erde ist ein Garten. Wir haben das Paradies verloren. Wir schieben Schuld aufeinander. Das Leben auf der Erde ist von Naturkatastrophen bedroht, doch Gott steht zu dieser Welt (die Sintflut). Geltungssucht und Gigantomanie zerstören das Miteinander (Turmbau zu Babel). Heute lesen wir die Geschichte von Kain und Abel, der Entstehung von Gewalt. Gewalt im Nahbereich erschüttert immer besonders. Ausgerechnet zwei Brüder schlagen sich tot.
Was wird nun aus der Familie? Adam und Eva haben zwei Kinder verloren. Abels Stuhl ist leer. Kain geht weg. In dieser ersten Familie bleiben immer zwei Plätze frei, zwei Lücken für die Eltern, zwei Wunden voller Sehnsucht und Fragen. Das Kind, das später geboren wurde, Set, wird den leeren Platz nicht ausfüllen. Von ihm stammen wir ab. Wir sind die Nachkommen dieser Familie, die Nachfahren der Familie der zerbrochenen Träume.
Als Evangelium haben wir die Geschichte vom barmherzigen Samariter gehört. Auch hier geht es um Gewalt. Auch hier gibt es ein Opfer, das schlimm zugerichtet wurde. Doch dieses Opfer erfährt Solidarität. Ein völlig fremder Mensch kümmert sich um ihn und sorgt dafür, daß seine Wunden heilen können. Er erfährt Zuwendung von außerhalb seiner Familie, ja von außerhalb der Religionsgemeinschaft.
Jesus träumt neu, den Traum von einer Familie jenseits der Blutsbanden. Wo verwandschaftliche Beziehungen abgebrochen sind, nicht mehr tragen, wo sie vielleicht sogar kontraproduktiv sind, möge es eine neue Familie geben. Diese Familie fragt nicht: gehörst du dazu? Woher kommst du? Sie nimmt sich der Gewaltopfer an. Sie übernimmt Verantwortung und knüpft Beziehungen neu.
Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis über 1. Mose 4,16
Andere Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis: Familie anders (Markus 3,31-35)
Andere Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis: Distance und Nähe – der barmherzige Samariter
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