Kurz vor dem Passafest. Die Leute strömten nur so nach Jerusalem. Passawochenende in der Hauptstadt! Viele reisten auch schon ein paar Tage eher an und genossen die Hauptstadtatmosphäre und das Getümmel. Was gab es im Trubel nicht alles zu sehen! Einer ritt auf einem Esel über einen Teppich aus Mänteln. Das war ein Spaß! Sie rissen gleich ein paar Zweige von den Bäumen und schwenkten sie vor Begeisterung.
Manche kamen jedes Jahr. Sie trafen alte Bekannte wieder, schwatzen über die Kinder und tauschten Neuigkeiten aus. Andere freuten sich auf die feierlichen Gottesdienste im Tempel. Alle waren gutgelaunt, die Bettler profitierten von den reichlichen Almosen und hatten sich zahlreicher als sonst eingestellt. Sogar einen Flashmob soll es gegeben haben, erzählten welche, die einen Draht zur Szene hatten. Ein paar Leute starteten im Tempel eine kapitalismuskritische Aktion. Es ging irgendwie um Geld und Religion. Ein paar Händler brachten sich hastig in Sicherheit, aber das war gar nicht nötig. Nur einige Bänke wurden umgeworfen und alles war so schnell vorbei, daß nicht einmal die Security vom Tempel eingriff. Was sind ein paar Bänke gegen eine Bank, witzelte einer, der davon hörte, und seufzte: Schade, daß ich nicht dabei war.
Als die Leute nach den Feiertagen müde und erfüllt nach Hause zogen, schwärmten sie von dem gelungenen Fest. Das Lamm war vorzüglich, die Gottesdienste im Tempel erhaben, die Psalmen wohleinstudiert. Im Olivengarten unten im Tal blühten gerade die Bäume. Schneeweiß standen sie und es sah wunderschön aus. Hier sollen sie einen festgenommen haben, raunte jemand, mich wundert’s nicht. Die Augen und die Ohren waren an jeder Straßenecke zu sehen. Oben auf dem Berg schnappten die meisten nach Luft und warfen einen letzten Blick zurück. Die Stadt, die Zinnen des Tempels, die blühenden Olivenbäume. Einer wischte sich verstohlen eine Träne weg. Zwei Männer klopften sich auf die Schulter. Mach’s gut, Alter. Nächstes Jahr in Jerusalem.
Zuhause, in Bethanien, sickerten Gerüchte durch. Kurz vor dem Fest sollen die Römer mehrere Todesurteile verhängt haben. Nein, davon hatten sie nichts mitbekommen. Die Augen und die Ohren waren zwar überall zu sehen gewesen, aber von Gefolterten, die zum Schädelberg geschleppt und dort an die Pfähle der Römer gebunden wurden, hatten sie nichts mitbekommen. Auch nicht von Unbeteiligten, die von der Arbeit kamen und zu Zwangsarbeit weggeschleppt wurden, Balken tragen. Simon hieß einer, kam von Cyrene. Es war ein tolles Fest in Jerusalem, fröhlich und bunt und laut, eine Auszeit vom Alltag. Die Olivenbäume sollen geweint haben? Sie hatten auch keine Frauen gesehen, die entsetzt am Weg standen und klagten.
1. Warum leiden viele Menschen und ihr Leben ist bedroht? Warum musste Jesus sterben einen bitt’ren Kreuzestod? Die Olivenbäume weinen. Trauer legt sich auf mein Herz. Schaut und seht im Vorübergehen, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz.
Die Olivenbäume weinen. Das ist ein arabisches Passionslied. Palästinensische Christinnen haben es 1994 in die Weltgebetstagsordnung aus Palästina aufgenommen. Eine Minderheit in der Minderheit in der Minderheit. Sie betrauern die Passionsgeschichte von Jesus und zugleich ihre eigene Passionsgeschichte. Leiden geschieht eher im Verborgenen. Wer sieht schon, wie die Olivenbäume weinen.
Wir Menschen leben in verschiedenen Welten, auch bei uns in diesen Tagen. Die einen bereiten sich auf Ostern vor, putzen die Wohnung, kaufen ein für den Besuch oder packen Koffer für einen Kurzurlaub. Das Wetter wird bestens, alle sehnen sich nach ein paar unbeschwerten Tagen. In dieser sonnigen Welt haben die anderen oft keinen Platz. Die sich vor dem langen Wochenende fürchten und vor der Einsamkeit. Die stundenlang auf Krankenhausfluren warten, bis sich die OP-Tür öffnet. Die von Polizeistation zu Polizeistation ziehen, um herauszukriegen, wo Angehörige oder Freund*innen das letzte Mal lebend gesehen wurden. Selbst die Bäume weinen.
Zwischen Palmsonntag und Karsamstag erinnern uns die palästinensischen Frauen an jene Welt, die wir schnell übersehen. Und sie bitten, daß die Hoffnung nicht abstirbt, die Hoffnung, daß das tote Holz wieder austreibt und grünt. Irgendwann.
2. Dunkel scheinen mir die Tage und ich sehe oft kein Licht. Gott, erhöre meine Klage, sei uns nah, verlass uns nicht! Lass die Hoffnung in uns wachsen: Leben schafft sich wieder Raum. Und das Holz des Kreuzes Jesu wird für uns zum Lebensbaum.
Arabisches Passionslied, deutscher Text: Renate Schiller, WGT 1994
Liedsatz L. Kirchbaum: https: //chorverband-ekbo.de/warum-leiden-viele-menschen
Andacht in der Karwoche mit dem Lied: „Warum leiden viele Menschen“
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