Natürlich hat der Jacobi-Turm in Sangerhausen auch einen Geist. Zu jedem alten Gemäuer gehört ein Geist, und zu einem Kirchturm sowieso. Von unserem wurde in den Sagenbüchern bisher nicht berichtet, denn meistens ist er unsichtbar – so wie sich das für einen echten Geist gehört. Er treibt im Verborgenen sein Wesen. Selbst für einen Geist ist das heutzutage Schwerstarbeit, denn wir sind ja eine moderne und aufgeklärte Zeit. Wer glaubt schon noch an Geister?!

Weil der Kirchturm sein Revier ist, ist es natürlich ein guter und kein böser. Poltern oder Kinder verschrecken ist nicht sein Ding. Doch zaubern kann er wunderbar. Wahrscheinlich beherrscht er einen Helligkeits-Zauber: Kaputte Glühbirnen leuchten plötzlich wieder, von Geisterhand natürlich. Aber er kann auch Dinge verschwinden lassen. Tote Tauben etwa. Wenn sie im Turm herumliegen, ist das ziemlich eklig.
Der Verschwinde-Zauber dauert allerdings manchmal länger. Für den Dreck, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hat, brauchte er ein paar Wochen. Ich habe das an der Mülltonne gemerkt. Immer wieder war sie voll. Praktisch scheint er ebenfalls zu sein. Seit er sich auf dem Turm zu schaffen macht, sind die Fenster dicht.
Sein Lohn? Geld will er jedenfalls nicht. Eher glaube ich, dass er sogar einen Vermehrungs-Zauber kennt. In der Kollekte sind öfter einmal ein paar Mark zuviel…
So ein Geist ist wunderbar. Ohne ihn hätten letzten Sonntag nicht so viele Leute auf den Kirchturm steigen können. Die wenigsten haben von seiner Existenz geahnt. Und schon gar nicht, wie oft er die 194 Stufen hinauf- und hinuntergeschwebt sein muß.
Als Pfarrerin habe ich natürlich einen Draht zur unsichtbaren Welt. Gelegentlich rufe ich ihn an. So habe ich mit der Zeit herausbekommen, dass er sich auch anderswo als guter Geist zu schaffen macht. Sogar einen Terminkalender braucht er! Denn die Kunst, überall gleichzeitig zu sein, ist selbst ihm nicht gegeben.
Das wäre auch keineswegs nötig, behauptet er, weil es genügend andere von seiner Sorte gäbe. Stimmt. Mir fielen die vielen Blumensträuße in der Jacobi-Kirche ein, den ganzen Sommer lang. Und der Abwasch nach dem Sommerfest. Inzwischen vermute ich, dass viele Geister gesellig veranlagt sind und in der Gemeinschaft von Menschen regelrecht aufblühen. Wenn das nur all die Leute wüßten, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt!
Dreck wegzaubern, Licht in dunkle Ecken bringen – erfordert das nicht spezielle Fähigkeiten, erkundigte ich mich. Oh nein, lachte er. Ich wirke zwar als guter Geist. Aber eigentlich kann das jeder.
Also auch Sie?!
Rufen Sie doch einfach bei der Kirchgemeinde an! Oder dort, wo gute Geister gebraucht werden.
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