Samuel Müller und der 30-jährige Krieg in Sangerhausen

In unserer Kirche ist ein Ehepaar, das uns wohl mehr über den Krieg erzählen könnte als jede/r andere. Der Mann hat darüber sogar zwei dicke Bücher geschrieben. Kennen Sie die beiden? Es sind Samuel Müller, im 17. Jahrhundert Superintendent in Sangerhausen, und seine Frau Anna Maria. Beide sind in Kirche begraben An ihn erinnert das 2. Epitaph links vom Altar, an sie die Holztafel gegenüber der Kanzel.

SamuelMüller2 klein

Fremd – das Motto der diesjährigen Friedensdekade – kamen sie auch nach Sangerhausen, als sie im März 1625 hier einzogen. Samuel war sächsischer Superintendentensohn und wurde 1592 in Frauenstein bei Meißen geboren. In seiner zweiten Pfarrstelle in Mücheln lernte er seine Liebste kennen: Anna- Maria, die Kantorentochter aus Mücheln. Noch im selben Jahr heirateten sie, er war 28, sie wird Anfang 20 gewesen sein, und bald schon kam die erste Tochter, Benigna. Als sich der nächste Nachwuchs meldete, packte Anna-Maria schon die Umzugstruhen, und am 18. März 1625 wurde Einzug gefeiert in der alten Superintendentur. Westlich von unserem Kirchturm, wo jetzt die Kastanienbäume stehen, befand sich ein zweistöckiges Gebäude mit Hof und Garten, 2 Pfirsichbäumchen, Haselnußstrauch und Weinstöcken und – sehr wichtig – einem Brunnen. Für die Zeit war das Haus geräumig: Bad, Küche, ein Zimmer und Pferdestall unten, Studierstube, Stube und Gästezimmer oben. Mit der zweijährigen Susanna und dickem Bauch von Anna-Maria zogen sie ein, und das Haus sollte sich bald füllen. 10 Kinder wurden es insgesamt, 10 Geburten, von denen 8 groß wurden.
Samuel Müller war der Superintendent mit der zweitlängsten Amtszeit, 37 Jahre. Er starb plötzlich im Juli 1662, mit 69 Jahren. Seine Frau überlebte ihn um 27 Jahre und starb am 8. 9. 1689 „die alte Frau Superintendend Müller“, hatte also noch einmal einen langen, eigenen Lebensabschnitt.

Samuel Müller gilt als Chronist des 30jährigen Krieges in Sangerhausen. Die Stadtgeschichte macht ihn leider etwas schlecht.  Friedrich Schmidt bezeichnet ihn – zu Unrecht – „als einen streitsüchtigen Mann, der alle Verhältnisse, Zustände und Personen scharf kritisierte.“ Im 30jährigen  Krieg hatte er „auch manches Ungemach zu erleiden…, was ihn verbitterte, wodurch der sarkatische und scharfe Ton in seinen Berichten und seiner Chronik einigermaßen eine Erklärung findet.“ (Friedrich Schmidt 2, 190)

Ich finde eher: klare Worte, das tut gut, wenn viel verschwiegen wird, klare Position. Besonders in seiner Funktion, denn als Superintendent gehörte er zum städtischen Establishment. Er hat sich aber nicht angepaßt, sondern sich sein eigenes, kritisches Urteil erlaubt, ohne Ansehen der Person. Er hat sich nicht von der Stellung eines Menschen einwickeln und beeinflussen lassen – das wünsche ich mir auch für uns.

Sangerhausen war kein Kampfgebiet, sondern „nur“ Durchzugsgebiet. Daß dieses Nur, die Folgeschäden, auch heute zu den schlimmsten Folgen der Kriege gehören, wissen wir inzwischen. Damals bedeutete das Einquartierungen, Vergewaltigungen, Kontributionen, Plünderungen, Zerstörungen. Für 1635 berichtet Samuel Müller sehr anschaulich:

Die Stadt mußte „zugleich große Contribution geben, Speise und Futter, da frassen und soffen Offiziere und Soldaten, bancketirten, bathen Gäste auf der Wirthe Beutel, und lebten wie der reiche Mann. Die Offiziere mußten haben zu 10 und 12 Essen [Gänge], und wollten manche kein Fleisch, sondern nur Vögel, Fische und Gebackenes haben. Wer nicht geben wollte oder konnte, wurde geschlagen, hinausgejagt, und war Vogelfrei, durfte sich nicht sehen lassen, und wurde ihm dann alles eingeschlagen, Ofen, Fenster, Dach und Fach. Wenn mancher die wöchentliche Contribution, 1, 2, 3, 4, 5, 6 bis 10, 12, 15, 20 Thaler nicht entrichtet, schickte man ihm ins Haus zehn bis zwölf Reiter, die saßen, fraßen und soffen auf des Wirthes Kosten, bis er Richtigkeit machte. Ging er davon, verwüsteten sie ihm das Haus. Sie hießen sie Exequirer, die Leute aber hießen sie Tribulirer welche sie auch waren.“  (Müller 179) Grundstücke verloren an Wert und lagen wüst, Lebensmittel wurden knapp, selbst das Stroh. Ein Bürger und Rathsherr war damals Hans Heyenroth, der „hatte 21 Aecker innerhalb 6 Monaten verkaufen müssen, wegen Thermo Lieutenants, den er mit zwei Tischen speisen müssen. Mußte wöchentlich 13 Thaler geben einem Lieutenante, Jacob Detzschel gab wöchentlich 19 Thaler.“ (Müller 179)  Die Leute trauten sich nicht aus dem Haus, sogar der Gottesdienst mußte ausfallen.

Über die Plünderung der Jacobi-Kirche berichtet Samuel Müller (Zitate auf Seiten 169 / 170 / 171): „Anno 1632 den 6. und 7. October hat Sangerhausen leiden müssen, als in etlichen hundert Jahren nicht geschehen.“ Da der Rat nur 1600 Taler geben wollte, 30 000 aber gefordert waren, wurde die Stadt geplündert. Viele Bürger versteckten sich im Harz. Manche Leute brachten ihre Wertsachen in die Jacobi-Kirche, dort oben auf der Empore, in der Hoffnung, dass es dort sicher sei. Andere vergruben oder vermauerten ihre Sachen. Anna-Maria und Samuel Müller hatten Kollegen aufgenommen, ihr Geld bei sich aufbewahrt und die Pferde in der Superintendentur unterstellen lassen. Die Eheleute selbst mit den Kindern und Hausangestellten, dem Stadtkämmerer Heinrich Mog und andere Leute versteckten sich auf dem Kirchturm. Aber es half nichts. Es wurde alles geplündert, auch in der Jacobi-Kirche, die Frauen wurden vergewaltigt. Samuel Müller schreibt,.dass sie:

„die Weibsbilder aber schändeten, und nur Geld begehrten. Viel Dinges war vor ihnen vergraben und vermauert, das haben sie meistentheils gefunden und weggenommen. Des Superintendenten vergrabene Sachen fanden sie alle, der nahm Schaden auf die 800 Thaler, raubete ein einziger Kerl, vor dem Einzug noch des ganzen Volkes, aus seiner Wohnung 13 Pferde, die anderen Leuten zustanden. Zwei Kutschwagen und 200 Thaler, so dem Pfarrer zu Schloß-Heldrungen, der mußte seine Lade aufschließen und zusehen, durfte kein Wort dazu sagen. Mußte sich dann in die Kirche begeben, da lag er im Chor zu Bette, wie der arme Lazarus, seiner großen Schwachheit wegen, da waren und schwärmete sie um ihn her, wie die Bienen. Etliche gaben ihm böse, etliche gute Worte, etliche, und darunter ein Capuciner Mönch brachten ihm essen und trinken, und befahlen seinem Weibe nicht von ihm zu gehen, vom Superintendenten wollte er 1000 Goldgülden haben. Vor der Kirche zwar und dem Thurm wurde Schildwache gestellt, das half wider die gemeinen Kriegsleute, aber nicht gegen die Offiziere, die schlugen wohl diejenige, so die Kirch-Sacristei und den eisernen Kasten darinnen aufbrachen, sie behielten aber die Kelche, Paten und silberne Kannen selber, öffneten auch das Gewölbe über der Thür  und nahmen daraus was ihnen beliebete, schöne Geräthe, Kleidung, Silberwerk und dergleichen, so die Leute hinauf geschafft hatten.“
In der Ulrichkirche zerstörten sie die Orgel, demolierten die Pfeifen und zerschlugen die Bibel mit Spitzämmern. Sie verbrannten Möbel und Getreide, obwohl an Brennholz kein Mangel war. Nachdem sie weitergezogen waren, kam eine Nachhut, verlangte nochmals 50 Gulden vom Superintendenten und schlug ihn und einen Bürgermeister blutig.
Das erklärt auch, warum wir keine Abendmahlsgeräte, keine Taufschale oder Leuchter besitzen, die älter sind.

Und der Nutzen?  Vom Krieg profitierten die Offiziere und wohl auch die Soldaten; die Offiziere schickten sogar von dem, was sie den Leuten abpreßten, nach Hause. Und: als die Schweden endgültig abgezogen waren, „kamen die Churfürstlichen und Kaiserlichen, machten es weit ärger als die Schweden, nahmen alles, was jene gelassen, verjagten die Leute aus den Dörfern, brenneten und hetzten sie aus den Gehöltzern, daß sie nirgends sicher waren, denn in den Städten, den ganzen Harz und alle Amts-Dörffer machten sie leer von Gut, Volk und Vieh.“ (Müller 184)

Unterscheiden sich die Kriege, die wir heute führen, so sehr von dem, was unsere Vorfahren erlebt haben? Sicher, wir haben stärkere Waffen und können mit einem Mal mehr Menschenleben zerstören als damals. Aber ist der Unterschied nicht nur ein gradueller? Verarmung, Geldentwertung, , Vergewaltigungen, Einquartierung, ein Land, das sich nur langsam wieder erholt, und vor allem- zerstörte Seelen. Daran können uns Samuel und Anna-Maria Müller erinnern.

Ich bin am Freitag lange durch unsere Kirche gestreift und habe nach Zeichen gesucht, die von Krieg und Frieden erzählen können. Das Erstaunliche: Ich habe ganz wenig Waffen gefunden. Caspar und Heinrich Tryller tragen Degen und Schwert, als Standeskennzeichen. Wir haben die Leidenswerkzeuge auf dem Kanzeldeckel. Und wir haben im Altar den ungläubigen Thomas mit der Lanze, mit der er selbst durchbohrt wurde. Aber sonst fehlen die Waffen. Sie sind mit der Zeit abhandengekommen. Und niemand hat sie ersetzt. Im Altar steht der Erzengel Michael, der Drachentöter. Sein Stab fehlt. Paulus an der Kanzel, mit dem Schwert ausgerüstet, sitzt mit bloßen Händen da.
Selbst dem Kriegshauptmann Jacob von Grünthal, der noch im Tod die Rüstung trägt, ist das Schwert genommen.

Natürlich ist es Zufall, dass gerade diese Attribute kaputtgegangen oder entfernt worden sind. Natürlich ist es Zufall – aber vielleicht können wir es als Zeichen für uns nehmen, dass sie nicht ersetzt wurden? Die Waffen wurden nicht wieder ergänzt. Sie wurden ihnen nicht wieder in die Hände gegeben. Nun stehen sie alle mit bloßen Händen da, mit Händen, die zum Arbeiten und Schaffen, zum Streicheln und Zärtlichsein und zum Beten da sind, nicht zum Schlagen. Die Zeit hat sie entwaffnet. Könnten wir unsere Kirche nicht auf diese Weise erzählen lassen, auch wenn wir keineder großen Heiligen des Friedens unter uns haben? Christus zerbricht das Gewehr – die Waffen zerfallen zu Staub und Asche, werden einfach belanglos und nichtig? Oder: die einzigen Waffen, die da sind, sind die Leidenswerkzeuge. Alles, was wir gegen andere richten, richtet sich in Wirklichkeit gegen Jesus selbst. Er ist der, der verfolgt, gequält wird, mit den Menschen bangt und leidet. Er ist auch der, der jetzt bei den Menschen in Afghanistan ist und überall dort, wo Menschen unter Krieg und seinen Folgen leiden.

Predigt zur Friedensdekade 2001 „Fremd“

Andere Predigten in der Friedensdekade
Predigten im Jahreslauf

Predigt zum 350. Todestag von Samuel Müller – Superintendent und Stadtchronist
Predigt zu Anna Maria Müller und den Sangerhäuser Pfarrfrauen
Spielszene Samuel Müller und Anna Maria Müller (zum 350. Todestag)

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