Wir gehen Spuren der Reformation vor Ort nach. Etwas völlig Neues hat die Reformation hervorgebracht: das evangelische Pfarrhaus und den Stand und Beruf der Pfarrfrau.

In katholischer Zeit hatten die Pfarrer allenfalls eine Kebse oder Buhle, also Lebensgefährtinnen, die nicht offiziell anerkannt waren und deren rechtliche und finanzielle Situation ausgesprochen unsicher war, ebenso die der Kinder aus diesen Verbindungen. Offiziell existierten sie nicht.
Die evangelischen Pfarrer heirateten. Die erste Pfarrfrau in unserer Umgebung wird Ottilie Müntzer in Allstedt gewesen sein. Sie heiratete 1523. Als Thomas Müntzer 1525 hingerichtet wurde, war sie mit ihrem zweiten Kind schwanger und bettelarm. Ihre Spuren verlieren sich im Dunkeln.
Die bekannteste Pfarrfrau in unserem Raum war Katharina von Bora. Sie wurde zum Vorbild für das evangelische Pfarrhaus und für protestantisches Familienleben überhaupt. Doch viel mehr Konventionen überwand Katharina Zell, die Pfarrfrau aus dem süddeutschen Straßburg. Sie arbeitete, im Gegensatz zu Katharina von Bora, tatsächlich in der Gemeinde mit, moderierte zwischen unterschiedlichen Glaubensauffassungen, organisierte Armenfürsorge, nahm Flüchtlinge auf. Und sie predigte am Grab ihres Mannes und berief sich dabei auf Maria von Magdala. Katharina Zell, die predigende Pfarrfrau.
Die Wittenberger Pfarrfrau Elisabeth Cruciger träumte davon nur. Am Morgen erzählte sie ihrem Ehemann, sie habe sich selbst gesehen, wie sie in der Kirche von Wittenberg auf der Kanzel steht und predigt. Der lachte darüber. Allenfalls ihre Lieder würden in der Kirche gesungen. Eins ihrer Lieder findet sich tatsächlich in unserem Gesangbuch: Nr. 67 Herr Christ, der einig Gotts Sohn.
Ohne die unbezahlte Vollzeittätigkeit der Pfarrfrauen hätte die evangelische Kirche sich nicht so entwickeln können. Bei ihnen haben sich Geknickte ihren Kummer von der Seele geredet. Pfarrfrauen haben wichtige seelsorgerliche Aufgaben übernommen, eine Brücke geschlagen zwischen dem Alltag der Menschen und dem Amt des Pfarr-Herren.
Das evangelische Pfarrhaus war kulturprägend. Hier wurde eine bürgerliche Wohnkultur vorgelebt, die ausgestrahlt hat in die städtischen und ländlichen Haushalte. Hausmusik wurde gepflegt, Gesprächskultur mit Interesse für Kunst, Kultur, Philosophie oder politische und soziale Fragen. Auch technische Neuerungen wurden in Pfarrhäusern gern früh ausprobiert. Im 16. Jahrhundert hatten die Sangerhäuser Pfarrhäuser eigene Brunnen, im 20. Jahrhundert wurden zeitig Waschmaschinen benutzt.
Das Bild der Pfarrfrauen wandelt sich. Heute sind die meisten berufstätig. Daß eine Pfarrfrau geschieden ist, wäre noch vor einem halben Jahrhundert schwer vorstellbar gewesen. Inzwischen gibt es – durch die Pfarrerinnen – auch Pfarrmänner und gleichgeschlechtliche Paare, die im Pfarrhaus wohnen.

Dennoch erwarten Gemeinden nach wie vor (kostenlose) Mitarbeit der Pfarrfrau bzw. des Pfarrmannes: Telefonieren, Termine arrangieren, Sorgen anhören, zu Besuchen begleiten, für und mit Kindern basteln, sie unterweisen, Kindergottesdienst organisieren. Dazu erledigen sie tausend Handgriffe, die niemand sieht: etwas in die Kirche oder zurück tragen, schnell etwas wegwischen… Alle Feiertage zu Hause sein und sich um die Familie und die Häuslichkeit im Hintergrund (Kochen, Dekorieren…) kümmern …
Und vor allem: jederzeit verfügbar sein und eigene Pläne fallen lassen, wenn der Pfarrer / die Pfarrerin einen Termin hat oder ein dringendes Gespräch. Die Gemeinde spielt die erste Rolle.
Die Pfarrhäuser waren in der Nachkriegszeit Anlaufstelle für Flüchtlinge, Durchreisende wurden aufgenommen, Hilfspakete weitergegeben. In der DDR boten sie geschützen Raum für Unangepasste und für Gespräche, die andeswo nicht möglich gewesen wären.
Predigt: Samuel Müller und der 30-jährige Krieg in Sangerhausen
Predigt zum 350. Todestag von Samuel Müller, Superintendent und Stadtchronist
Spielszene Samuel Müller und Anna Maria Müller (zum 350. Todestag)
Weitere Predigten in der Trinitatiszeit: hier
Predigten im Jahreslauf: hier
Anna Maria Müller: Wie oft habe ich hier gesessen und zur Kanzel hochgeblickt. Dort oben hat mein Mann gepredigt, Samuel Müller, Superintendent und Stadtchronist. Oft war er auch unterwegs, zum Konsistorium in Leipzig oder in Dresden. Oder er war zur Visitation und hat überprüft, ob die Pfarrer in den Dörfern, die Lehrer in den Schulen das rechte Wort finden, ob die Kirchenkassen stimmen und die Einnahmen pünktlich gezahlt werden. Von Heldrungen und Roßleben ging sein Bereich bis Sylda und Alterode. Da musste auch ich mir die Zeit für den Gottesdienst abknapsen. Zum Glück hatte ich’s nicht weit.
Gleich vor dem Turm war die Superintendentur, wo jetzt die Kastanien stehen. „Ein mäßig Losament“, hat mein Mann geurteilt (Samuel Müller, Stadtchronik 1731 S. 53). Den Saal kannte ich schon als Kind. Mein Vater musste regelmäßig zu Konventen hierher. Er war nämlich Pfarrer in Blankenheim. Meine Mutter und ich haben ihn manchmal in die Stadt begleitet und auf dem Markt eingekauft. Dann haben wir in dem kleinen Gärtchen gewartet oder im Hof neben dem Wasserbrunnen. Ich durfte mir sogar die Pfirsiche, die vom Baum gefallen waren, auflesen. Wie froh war ich später über den Brunnen, als ich selbst hier wohnte. Ich konnte mir Wasser hochziehen, soviel ich brauchte, und musste es nicht mit Eimern von der Arche auf dem Markt heranschleppen.
Ich vergaß ganz, mich vorzustellen: Anna Maria Müller, geboren am 20. Juli 1604 in Blankenheim. Älteste Tochter von Pfarrer Johann Dorr und Hedwig Giebelhausen. Ich habe 3 Brüder und 6 Schwestern, habe also immer kleine Kinder um mich gehabt, so wie später meine eigenen. Meine Mutter, Hedwig Giebelhausen, war selbst Pfarrerstochter aus Katharinenrieth. Dort war ich oft im Pfarrhaus zu Besuch. So kenne ich die Gegend ganz gut. Mein Mann aber ist waschechter Sachse. Samuel Müller ist in Meißen und Chemnitz aufgewachsen, als Superintendentensohn.

Mit knapp 17 habe ich geheiratet. Wir zogen nach Mücheln. Dort kam Susanna zur Welt. 1625, mitten im 30-jährigen Krieg, wurde Samuel nach Sangerhausen berufen. Nun mußte ich auf einmal als Superintendentenfrau repräsentieren, ich war noch nicht einmal 21 und bekam mein zweites Kind. Die Superintendenten waren Amtspersonen und gehörten zur städtischen Oberschicht. Gleichzeitig haben mir viele am Küchentisch ihr Herz ausgeschüttet. Übrigens, viele Begebenheiten, die Samuel Müller in seiner Stadtchronik festgehalten hat, hat er von mir. Ob die Chronik endlich erschienen ist? Selbst nach seinem Tod habe ich jahrzehntelang nach einem Verleger gesucht, der sie druckt.
(Moderatorin: Hier ist sie.)
Anna Maria Müller: Oh, ist die schön. 1731 – fast hundert Jahre nach der Fertigstellung. Da habe ich heute Abend zu schmökern.

Szenischer Gottesdienst am 9.8.2015
Lesung Sprüche 31,10-31
Von der tatkräftigen Frau habt ihr aus der Bibel vorgelesen. Meine eigene Mutter und Großmutter waren solche klugen und tüchtigen Pfarrfrauen auf dem Land. Wie viele Bohnen, Möhren und Kohlköpfe haben sie nicht im Pfarrgarten angebaut, um alle hungrigen Mäuler zu stopfen, und abends Äpfel getrocknet für den Winter. Die Besoldung bestand zum größten Teil aus Naturalien. Und ich in der Stadt habe auch zehn Kinder aufgezogen. Nur zwei sind als Kleine gestorben, alle anderen groß geworden – trotz Krieg, Pest, Plünderung und Hunger. Und die Inflation in der Kipper- und Wipperzeit! Unser Geld war nichts mehr wert, weil die Münzer die Silbergroschen mit Kupfer gestreckt haben. Wir brauchten einen neuen Kinderstuhl. Mein Mann kam geknickt heim: „Vor ein Kinderstülichen habe ich selbst 23 fl. gegeben auf der Eselswiese“, seufzte er. (S. 15)
Zu den schrecklichsten Stunden gehörte der 6. Oktober 1632, ein Mittwoch. Da stürmten die Soldaten die Stadt, schlugen alles kurz und klein und vergewaltigten die Frauen. Ich hatte bis zur letzten Minute Geld, Schmuck und Besteck eingegraben. Dann haben wir uns dort oben auf dem Kirchturm eingeschlossen und gezittert, mit den vier Kleinen. Hedwig war gerade ein Jahr alt. Mein Mann hat es aufgeschrieben, als ob er noch in Schockstarre neben sich selbst stehen würde:
„Heinrich Mog, der Cämmerer .. [hat] sich auf den Kirchthurm salviret neben den Superintendenten, M. Samuel Müllern, sein Weib, Kindern und Gesinde, und anderen guten Leuten, Manns- und Weibs-Personen. … Des Superintendenten vergrabene Sachen fanden sie alle, der nahm Schaden auf die 800 Thaler, … aus seiner Wohnung 13 Pferde, die anderen Leuten zustanden. Zwei Kutschwagen und 200 Thaler, so dem Pfarrer zu Schloß-Heldrungen [gehörten]. … Die Offiziere brachen die Kirch-Sacristei und den eisernen Kasten darinnen auf […], sie behielten aber die Kelche, Paten und silberne Kannen selber, öffneten auch das Gewölbe über der Thür und nahmen daraus was ihnen beliebete, schöne Geräthe, Kleidung, Silberwerk und dergleichen, so die Leute hinauf geschafft hatten.“ (Müller 169 f.)
Genug geklagt. Schließlich hatten wir über 40 Ehejahre miteinander. Viele andere Pfarrfrauen sind als junge Mütter verwitwet und haben dann, als sie wieder heirateten, noch einmal drei, vier oder fünf Kinder bekommen. Oder ihr Mann brachte eigene Kinder mit. Da fand sich eine junge Pfarrfrau schnell als Mutter von acht oder zehn Kindern und Stiefkindern wieder. Und vorbildlich sollten sich die Kinder auch benehmen! Darauf schauten die Gemeinden mit Argusaugen.
Als ich 1662 Witwe wurde, musste ich noch mit der Stadt prozessieren, wegen Gehalt, das mein Mann der Stadt in Kriegszeiten geliehen hatte. Dennoch habe ich ein schönes steinernes Epitaph für Samuel anfertigen lassen, dort neben Superintendent Simon Mosbach.
Auch musste ich nicht noch einmal heiraten wie Catharina Mosbach, Simons Witwe. Ihr zweiter Mann hat sie so schlecht behandelt, daß mein Mann es in der Chronik festgehalten hat: „der hat sie aber sehr übel gehalten.“ (S. 57) Von der Superintendentin zur geschlagenen Frau – dieses Schicksal ist mir erspart geblieben. Wie es bei mir weiterging? Ein paar Jahre später, unter Christian Leyser, wurden endlich Emporen eingebaut und Johann Andreas Bottschild hat die Kirche ausgemalt. Drei Nachfolger meines Mannes habe ich überlebt, der Herzog in Weißenfels protegierte die Hofpredigerfamilien.
Moderatorin: Im Sterberegister vom September 1689 habe ich gelesen: „Den 8. ist auch die alte Frau Superintend Müllern in die St. Jacobs Kirche in der Stille beigesetzt worden, … die Abdanckung verrichtete ihr Sohn, Dr. Philipus Müller, Propst und Prälat zu Magdeburg“
Anna Maria Müller: Ja, ich bin 85 Jahre alt geworden.
Moderatorin: Diese Tafel ist für dich. Dein Sohn Philipp hat sie aufhängen lassen.
Anna Maria Müller: … Philipp … Er war als Baby so schwach. Drei Jahre habe ich ihn gestillt, so lang, wie keins der anderen.
Moderatorin: Schau, was er auf der Tafel über dich schreibt:
bona – gut
pia – fromm
industria – fleißig
prudens – erfahren
aber auch per tot tristia satur vitae – durch alle Traurigkeit ein erfülltes Leben.
Anna Maria Müller: Das klingt fast wie in der Bibel, die tatkräftige Frau.
Moderatorin: Ja. Und am Schluß heißt es: in der Hoffnung auf eine fröhliche Auferstehung.