Glocken für den Krieg

Die Kinder in der Kirchgasse stocherten auf ihren Tellern herum. Schon wieder Steckrüben, mäkelten sie. Die Mutter zuckte müde mit den Schultern und schloss das Fenster. Aber es half nichts. Die schweren, metallischen Hammerschläge drangen durch jede Wand und ließen den Kopf schier zerspringen. Das ging schon eine Weile so. Kein Wunder, dass die Kinder quengelten.
Auf dem Kirchturm der Ulrichkirche wurde die Glocke zerschlagen. Die hatte geläutet, als sie geheiratet hatte. Und später, als die Kinder getauft wurden. Nun wurde sie in Einzelteile zertrümmert. Kanonen sollten darauf werden, Gewehre, Patronenhülsen. Aus der Jacobikirche, der Ulrichkirche, aus Nienstedt, aus Oberröblingen, aus fast allen Dörfern wuchteten sie die Glocken von den Türmen. Der Krieg fraß Metall. Den Kindern blieben nur Steckrüben. Wenn überhaupt.

Im Sommer 1917 wurden in ganz Deutschland Glocken von den Türmen geholt und eingeschmolzen. Die Glockenabschiedsfeiern, bei denen sie das letzte Mal geläutet wurden, waren traurige Gottesdienste.
Die Bibel träumt umgekehrt. Schwerter sollen zu Pflugscharen umgeschmiedet werden. Die Mutter von vor hundert Jahren könnte das in drei Wochen erleben. Dann werden Glocken an der Marienkirche gegossen. Sie sollen zu Gottesdiensten rufen und die Menschen dieser Stadt in Freude und Leid begleiten. Und sie mögen immer für den Frieden läuten.

Mitteldeutsche Zeitung 5.8.2017

Gottesdienst mit Predigt und Texten: 1917 – Glocken für den Krieg: hier

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