Sonniger Oktober in Malta, auf unserer Gemeindefahrt. Haben Sie eben die Leute am Straßenrand bemerkt, fragte unser Reiseleiter? Aus dem Busfenster sah ich sie gerade noch, auch einige Afrikaner dabei, die neben einer Haltestelle herumstanden, bei der nächsten Kreuzung noch ein paar, einzeln oder in kleinen Grüppchen. Es sind Tagelöhner, erklärte der Reiseleiter. Sie warten auf Arbeit. Sie hoffen, dass jemand vorbeikommt und sie braucht. Ob sie heute noch eine Chance haben? Immerhin war schon später Vormittag, nach biblischer Zeitrechnung 5. oder 6. Stunde.
Die Tagelöhner aus dem Gleichnis von Jesus waren keineswegs ausgestorben. Hier, am Straßenrand, standen sie herum, warteten auf Arbeit, genau wie vor 2000 Jahren. Freilich – ohne unseren Reiseleiter hätte ich sie völlig übersehen. Ich hätte sie für Leute gehalten, die einfach nichts zu tun haben, herumhängen, zuviel Zeit haben und sich den lieben langen Tag die Sonne auf die Nase scheinen lassen. Mir musste erst jemand die Augen öffnen, damit ich begreife: Das ist keine nette Oktoberidylle. Sie stehen aus Not hier, und es ist harter Alltag wie damals bei den Tagelöhnern in der Bibel. Haben sich die Verhältnisse wirklich geändert? Willkommen im 21. Jahrhundert.
Über diesen Denar ist viel nachgedacht worden. Er entspräche der Summe, die für einen Tag zum Überleben notwendig ist. Die Botschaft der Geschichte wäre: Wir bekommen alle von Gott soviel, wie wir zum Leben brauchen.
Das stimmt nicht ganz. Der Denar ist der Lohn für einen männlichen Tagelöhner in der Landwirtschaft. Er reicht für eine Person, aber nicht für eine Familie. Er setzt voraus, dass die Frau mit verdient.* Ohne die Arbeit von Frauen, Kindern und Alten würde die Familie nicht überleben. Dabei betrug der Lohn für Frauen nur knapp die Hälfte dessen, was ein Mann bekam. Dennoch wurde ihr Verdienst gebraucht. Und dann reichte es gerade, um nicht zu verhungern. Der Mann verdient das Geld und die Frau kümmert sich um Haushalt und Kinder – so war es weder in der DDR noch in proletarischen Familien des 19. Jahrhunderts. Und auch zu Jesu Zeiten wurde jede Hand gebraucht. Die Armut zwang dazu.
Doch die Armen selbst bleiben meist unsichtbar. Sie versuchen – jedenfalls bei uns -, ihre Bedürftigkeit so gut wie möglich zu kaschieren. Wer gesteht sich und der Mitwelt gern ein, arm dran zu sein? Und die Geschichtsbücher haben jahrhundertelang lieber aus der Perspektive der Gebildeten berichtet, über Herrscher und ihre Siege, über Aufstieg und Fall.
Was werden sie gedacht haben, als Jesus ihnen die Geschichte von den Tagelöhnern erzählte, die am Ende alle den gleichen Lohn bekamen? Vielleicht haben sie schallend gelacht und sich auf die Schenkel geklopft: Welch glänzender Schluss! Alle bekommen gleichviel. Darauf ist noch niemand gekommen. Und wenn der Patron uns wieder schikanieren will, dann erzählen wir ihm diese Geschichte!
Vielleicht war die Frau dabei, von deren verlorenem Denar Jesus einst gehört hatte, und ist wie damals zu ihren Nachbarinnen und Freundinnen gelaufen; die Geschichte hat sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet und hat die Augen der Leute zum Leuchten gebracht. Großartig, ein Gott, wo die Ersten die Letzten sind und die Letzten die Ersten, selbst bei den Arbeitslosen.
Unsere alten Wege bringen uns auch nicht weiter. Dass unsere komplette Weltwirtschaftsordnung auf wackligen Füßen steht, wissen wir seit der Bankenkrise. Inzwischen ahnen wir auch, dass die niedrigen Löhne im Osten und die vielen Mini- und Ein-Euro-Jobs uns langfristig nicht helfen, sondern im Gegenteil Altersarmut im großen Stil produzieren werden. Wir haben Utopien dringend nötig.
Ein Denar für alle. Für den Gelegenheitsarbeiter und für die Frau, die normalerweise doppelt solange arbeiten muss, um dasselbe zu verdienen. Für die sichtbare, anerkannte Arbeit und für die vielen unsichtbaren Hände, die der Kinder, der Alten, der Frauen. Für die, die kräftig und aktiv sind, und für die Schwachen und Kränklichen. Ist es gerecht, alle durchzuschleppen? Für Jesus spiegelt sich darin Gottes Reich wider. Und wir, wir müssen diskutieren, was das für uns bedeutet. Amen.
*vgl. Luise Schottroff: Lydias ungeduldige Schwestern. Gütersloh 1994
S. 193 – 144 zu den Lohnverhältnissen, S. 122 ff zu Frauenarbeit im Neuen Testament
Predigt zu Septuagesimae zu Matthäus 20,1-16
Andere Predigt zu Septuagesimae über Matthäus 9,9-13: Berufung
Andere Predigt zu Septuagesimae über 1. Korinther 9,24-27: Paulus rennt. Schöne neue Fitnesswelt
Weitere Predigten in der Passionszeit und Vorpassionszeit
Zu den Predigten im Jahreslauf
Hintergrundinformationen zum Matthäus-Evangelium: Syrien-Rundschau (Download)
Die Welt Gottes ist in der folgenden Geschichte mit der Wirklichkeit eines Menschen, und zwar eines Grundbesitzers, zu vergleichen. Er ging gleich am frühen Morgen los, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Nachdem er mit den Arbeitern einen Denar für den Tag vereinbart hatte, schickte er sie in den Weinberg. Und als er um die dritte Stunde hinging, sah er andere arbeitslos auf dem Markt stehen. Auch zu ihnen sagte er: „Geht auch ihr in den Weinberg, und ich werde euch geben, was recht ist.“ Und sie gingen da hin. Um die sechste und neunte Stunde ging er wieder hin und tat dasselbe. Als er um die elfte Stunde hinkam, fand er andere dort stehen und sagt zu ihnen: „Warum steht ihr hier den ganzen Tag arbeitslos?“ Sie antworten ihm: „Weil niemand uns eingestellt hat.“ Er sagt zu ihnen: „Geht auch ihr in den Weinberg.“ Als es Abend geworden war, sagt der Weinbergbesitzer zu seinem Aufseher: „Rufe die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn aus. Fange bei den letzten an, bis zu den ersten.“ So kamen die von der elften Stunde und erhielten je einen Denar. Als die ersten kamen, meinten sie, dass sie mehr bekommen würden. Doch auch sie erhielten je einen Denar. Sie nahmen ihn und beschimpften den Grundbesitzer: „Diese letzten da haben eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir doch die Last des Tages und die Hitze aushalten mussten.“ Er sagte zu einem von ihnen: „Mein Lieber, ich tue dir kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm, was dir gehört, und geh! Ich will nämlich diesem letzten dasselbe geben wie dir. Oder ist es etwa nicht erlaubt, mit meinem Eigentum zu machen, was ich will? Bist du etwa neidisch, weil ich gütig bin?“ Vergleicht! Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten die Letzen.