Die Leute wussten, warum sie im eiskalten Januar die Einsetzung von Barack Obama als Präsident der USA miterleben wollten: es war ein historisches Ereignis. Erstmals wurde ein Farbiger Präsident der Weltmacht USA. Und es begann in Philadelphia. Denn Obama kam mit der Eisenbahn von Philadelphia nach Washington.
Bei Philadelphia klingeln in Amerika die Ohren. Es ist die historische Hauptstadt. Der Quäker William Penn hatte sie 1682 gegründet und ein „heiliges Experiment“ gewagt. Er glaubte an ein Gemeinwesen, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und Glaubens friedlich, gleichberechtigt und frei miteinander leben können – in einer Zeit, in der in Europa für solche Ideen das Gefängnis drohte. In Philadelphia wurde später die Verfassung unterzeichnet. Die Stadt ist die Wiege einer neuen Welt und eines freien Amerikas. Daran knüpfte Obama an. Und: der künftige Präsident der USA fliegt nicht mit dem Flugzeug ein. Er fährt mit dem Zug, so wie Präsident Abraham Lincoln 1861, der die Sklaverei abschaffte. Auch das Datum der Einsetzung war bedeutsam: am Tag nach dem Martin-Luther-King-Day, der landesweit begangen wird.
Dieser Einzug hatte symbolische Bedeutung, so wie andere Einzüge auch. Ich denke an den Fackelzug der SA am 30. Januar 1933 durch das Brandenburger Tor anlässlich der Machtübernahme Hitlers. Ich denke an die Reichsparteitage, an die Militärparaden auf dem Roten Platz, an die erzwungenen 1.-Mai-Demonstrationen in der DDR. Ich denke aber auch an die Demonstrationen während der Friedlichen Revolution, als die Menschen mit Kerzen und selbstgemalten Transparenten zu den Schaltzentralen des Staates zogen, zur SED-Kreisleitung, zur Staatssicherheit und Dialog und Veränderungen einforderten. Einzüge haben mit Macht und Machtdemonstration zu tun.
Jesus zieht nach Jerusalem, in das politische und religiöse Zentrum der Macht in Palästina. Jerusalem war die Hauptstadt, das Herz des Landes, auch wenn die Römer die Fäden zogen. Zugleich zieht Jesus in die Machtlosigkeit. Er kommt auf einem Esel, dem Arbeitstier der einfachen Leute. Er zieht mitten ins Leiden und in die Katastrophe hinein. Er gibt anscheinend alle Macht aus Händen, wird ausgeliefert und am Ende gefoltert und getötet. Er zieht der Ohnmacht entgegen. Zugleich bleibt er selbstbestimmt. Nie macht er den Eindruck, getrieben zu sein oder Spielball in den Händen anderer. Er wird ohnmächtig und ist er selbst. Ist das ein Widerspruch? Oder gehört es zusammen, dass er frei ist, während er eines immer größeren Teils der Entscheidungsmöglichkeiten über sich ledig wird – bis hin zu der Möglichkeit, über Leben und Tod entscheiden zu können? Er wurzelt so tief in sich selbst, dass der Tod sich an ihm die Zähne ausbeißt. Gilt das auch bei uns heute? Können Menschen ihre innere Freiheit bewahren, während sie der Möglichkeiten beraubt werden, über sich zu entscheiden? Läßt sich Würde auch in äußerer Erniedrigung und widrigen Umständen zeigen? Wir bitten darum für uns selbst und wir bitten darum, dass wir achtsam mit der Würde anderer umgehen.
Jesus zieht in Jerusalem ein mitten in die Konflikte. Die Bibel berichtet von verschiedenen Auseinandersetzungen während des Aufenthalts. Er streitet mit den religiösen Wortführern, er treibt die Händler aus dem Tempel, er wird zornig und gewalttätig. Jerusalem ist nicht nur Ort der Macht, sondern auch Ort des Konflikts. Jesus war sich bewusst, dass in dieser Stadt die Auseinandersetzung auf ihn zukommt.
»Kein Fremder soll eintreten…“ Das waren die ersten Worte eines Warnschildes am Eingang des Tempels. Sie standen an der Mauer des Hofes für die sogenannten Heiden. Dieser Tempel war nicht für alle offen. Er teilte Menschen in verschiedene Kategorien ein und wies ihnen einen unterschiedlichen Platz im Heiligtum zu. Darin spiegelt sich die Rangordnung in der Gesellschaft wider: Zuoberst die Priester, dann die Männer, zuletzt die Frauen, die Ausländer und Andersgläubigen. Jesus verkörperte einen völlig anderen Lebensentwurf. Sein Himmel war für alle offen. Er war sich bewusst, dass er würde reagieren müssen. Hier würde er Flagge zeigen müssen.
Jesus zieht mitten hinein in den Konflikt. Wie gehen wir mit Konflikten um? Nehmen wir sie überhaupt wahr? Gehen wir offensiv darauf zu? Umschiffen wir sie lieber? Was ist unser Jerusalem und wo müssen wir Farbe bekennen?
Die wenigsten von uns sind Querköpfe, die sich ständig herumstreiten, oder reden sich halsbrecherisch um Kopf und Kragen. Auch Jesus nicht. Sollte es ihm nicht viel eher wie den meisten Leuten gegangen sein: dass er Scheu vor Auseinandersetzungen hatte? Er war ja ganz und gar Mensch, wir haben es vorhin im Philipperbrief gelesen (Phil. 2, 5-11, Epistel von Palmsonntag). Die Angst, anzuecken oder sich unbeliebt zu machen, kannte er also auch. Trotzdem zieht er nach Jerusalem. Er geht der Herausforderung entgegen.
Der Einzug in Jerusalem gleicht einer Prozession und ist zum Vorbild für Prozessionen geworden, nicht nur am Palmsonntag. Was ist mit den Einzügen in unserem Leben? Auf alten Fotos sind solche Züge festgehalten: das Baby wird im Taufkleidchen zur Taufe in die Kirche getragen, der Konfirmationszug, der Hochzeitszug, schließlich der Trauerzug zum Friedhof. Sie markieren äußere Stationen im Leben. Bezeichnen sie auch innere Wendepunkte? Oder sind innere und äußere Veränderung auseinander gefallen? Was lohnt es sich zu zelebrieren?
Jesus kam dreimal nach Jerusalem. Als Baby wurde er in den Tempel getragen zur Beschneidung. Als Jugendlicher kam er zur Bar Mizwah und vergaß als ‚zwölfjähriger Jesus im Tempel’ alle Zeit bei den Diskussionen über Gott und die Welt. Von den ersten beiden Malen berichtet nur das Lukasevangelium. Und nun kommt er zum dritten Mal, zum endgültigen und letzten Mal. Er würde Jerusalem erst als Toter verlassen – oder besser als Untoter, denn seine Anhängerinnen und Anhänger trugen Unruhe von hier aus in die Welt. Sie verbreiteten Unruhe wie die Jugendlichen in der DDR mit dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“. „Gesegnete Unruhe“ ist das Jahresmotto unserer Landeskirche zum 20jährigen Wendejubiläum.
Jerusalem steht am Anfang und in der Mitte seines Weges. Nun ist es sein Ziel. Es wird ihm das einhandeln, wovor die vorsichtigen Leute immer gewarnt haben: Konflikte, Auseinandersetzung und schließlich den Tod. Es wird ihm aber auch das einbringen, wovon sie kaum zu träumen wagen: Der Weg in den Tod ist der Weg durch den Tod hindurch.
Predigt am Palmsonntag über Johannes 12,12-19
Predigt am 1. Advent über den Einzug in Jerusalem: Der Esel erzählt
Weitere Predigten in der Passions- und Vorpassionszeit: hier
Predigten im Jahreslauf: hier