Totensonntag: Stadt der Träume (Offb 21,1-7)

Liebe Gemeinde, wo ist der Nabel der Welt? Wenn wir einen Juden oder eine Jüdin fragen würden, was die Stadt der Städte ist, würde sie antworten: Jerusalem. Nicht New York, nicht London, Paris oder Berlin, sondern Jerusalem. Dorthin hat Gott sie geführt, dort ist der Berg Zion, der Gottesberg, dort regierten David und Salomo, sind die Zinnen des Tempels und heute noch die berühmte Westmauer. Dort, im Tal Kidron, wird die Auferstehung der Toten beginnen. Abraham opferte Isaak auf dem Felsen Moria. An dieser Stelle stand einst der Tempel und heute der Felsendom, die Omar-Moschee. Nach einer Vision fuhr von dort der Prophet Mohammed gen Himmel.

Jerusalem ist heiliger Boden auch für den Islam. Und Jerusalem ist ebenso das Ziel für christliche Pilgerinnen und Pilger. Sie wollen ihren Fuß auf das Stück Erde setzen, auf dem Jesus einst wandelte. Wo der Nabel der Welt zu finden ist, darin sind sich diese drei Weltreligionen einig, was sonst sie auch trennen mag. Schlimm und erbittert wird um das Vorrecht über diese Stadt gekämpft. Doch ist dies nicht die Kehrseite dessen, dass dieser Flecken Erde Hoffnung für sie alle bedeutet? Könnte diese Hoffnung nicht den Keim in sich bergen, der jene Vision zur Wirklichkeit werden lässt, die wir in der Friedensdekade bedacht haben: In den letzten Tagen wird der Berg, auf dem Gottes Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg Gottes gehen!

Jerusalem ist die Stadt der Träume und Visionen der Menschheitsgeschichte, in der Schrift und bei den Propheten. Mit dem Traum von einem neuen Jerusalem schließt das Neue Testament. Es ist die Hoffnung auf eine Stadt, in der die Menschen alt und lebenssatt sterben und Kinder nicht für einen frühen, sinnlosen Tod geboren werden. Eine Stadt, in der gar kein Anlaß besteht, anderen etwas wegzunehmen oder neidisch über den Gartenzaun zu schielen, weil der eigene Weinstock genug trägt und die Menschen sich von der Frucht ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren können. Eine Stadt, in der Weinen und Klagen ein Ende haben, in der selbst die Tiere in Frieden miteinander leben und, so schließt das Neue Testament, Gottes Hütte neben denen der Menschen steht. Die Stadttore sind aus Perlen und alles funkelt von Gold und Edelsteinen. Solch eine Stadt kann das Ziel aller Träume sein.

Aber die Stadt kann auch das Ende aller Träume bedeuten. Neben den hochgebauten, reklamebestückten Fassaden breiten sich die Vorstädte des Elends aus. Das Leben in Rausch und Glitzer und Vergnügen verfliegt und hinter den Fensterhöhlen nistet sich die Einsamkeit ein. Mit ihren Versprechungen von Aufstieg und Glück zieht sie die Leute magisch an und frisst sie auf. Das rauschende und pulsierende Leben verheißend, saugt sie die Menschen in sich auf und verleibt sie sich ein. Sie wird zum Sammelbecken von Suchenden und Gestrandeten, Spekulanten und Abenteurern, kleinen Gaunern und großen Verbrechern. Schließlich spült sie als leblose Hüllen an ihren Rand und speit aus, was bei den oberste Zehntausend, bei den biederen Bürgersleuten oder in der Unterwelt keinen Platz gefunden hat. Ein Alptram von Stadt.

Sie streckt ihre Finger manchmal auch nach uns aus. Nicht dass hier eine neue Millionenmetropole entstehen würde. Nein, ich meine, daß ihr Geist die Finger manchmal nach uns ausstreckt, etwa wenn das schwarze Gefühl der Einsamkeit und Leere angekrochen kommt oder wenn der Tod, der frühe, der rätselhafte, sich zu schaffen macht unter uns. Die Alten verstehen nicht mehr die Jungen und die Jungen nicht mehr die Alten. Die ameisenhafte Betriebsamkeit und wilde Jagd des Alltags können uns vergessen lassen, wie es ist, den Himmel zu schauen oder eine Blume oder ein Gesicht. Dann greift jene Stadt mit ihren Fingern nach uns, jene Stadt als Symbol für Zerrissenheit und Fremdheit und Leere.

Wenn wir das Bild von der Stadt weiter ausspinnen und ausmalen, so ist es auch der Verrat, der in ihren Winkeln hockt. Das Netz des Bösen wurde gesponnen und zog sich zusammen auch über den, in dessen Namen wir heute zusammen sind und feiern, Jesus. Sterben freilich musste er vor ihren Toren, außerhalb der Gemeinschaft und außerhalb des Blickfeldes. Er starb vor der Stadt. Der Tod sollte ihr nicht ins Gesicht und auf die Fahnen geschrieben sein, sie will sauber bleiben. Der Tod darf den geschäftigen Alltag nicht stören. Er wird an den Rand gedrängt, obwohl er in der Stadt seinen Ursprung hat. Gestorben wird in der Einsamkeit, und diese Einsamkeit ist manchmal so fernab, dass sie nicht einmal mehr von einer Frage erreicht wird. Eine grausame Stadt.

Aber der, der in dieser Stadt verraten wurde und vor ihren Toren enden musste, gerade durch den ist etwas Neues in die Stadt hineingekommen. Der hat sich aufgemacht, in die leeren Fensterhöhlen der Einsamkeit hineinzuschauen. Er hat hinter die gestylten Fassaden geblickt und Platz genommen in den Hütten des Elends. Er hat sich nicht blenden lassen vom Rausch und aufsaugen lassen von der Hektik, sondern er hat begonnen zu feiern – so wie wir es heute tun wollen. Er hat gefeiert mit denen, die da waren, war einfach da für die, die kommen wollten. Er hat angefangen, in der Stadt, in der Welt der Alpträume, zu leben wie in der Stadt der Träume. Hat Tränen abgewischt von Augen, die den Schrecken des Todes sahen, auch noch als er selbst im Sterben hing. Hat Gemeinschaft gelebt, als er selbst verraten und verkauft war. Er war Hütte Gottes bei den Menschen, noch als er mit einem Schrei auf den Lippen starb.

Und nachdem sie ihn beseitigt hatten vor den Toren der Stadt, da begann das, was er gesät hatte an Neuem, zu keimen in der Stadt. Sie wanderte in die Stadt hinein, die Botschaft des Lebens, und setzte sich in der Stadt fest. Das erste Christentum entstand genau in den Städten und breitete sich durch die Städte aus, Jerusalem, Damaskus, Antiochia, Philippi, Athen, Ephesos, Korinth, Rom. Was die Stadt vor ihre Mauern geschickt hatte zu sterben, fasste in ihr Fuß und wurde zum Keim einer neuen Stadt, einer Stadt der Hoffnung. Das himmlische Jerusalem der Johannesoffenbarung hat immer wieder die Phantasie der Menschen angeregt und ihren Sehnsüchten eine Form, einen Platz, eben eine Stadt gegeben. Im Mittelalter wurden die Beschreibungen aus der Offenbarung sogar zum Vorbild für die Stadtplaner, wenn ein Ort angelegt oder erweitert werden sollte. Sie wollten damit sagen: Auch unsere Stadt soll ein Abbild dieses himmlischen Jerusalem sein.

Freilich, Steine und Mauern können das nicht. Aber dass unter uns Tränen abgewischt werden und Gottes Hütte einen Platz hat, dass unter uns neu wird, was kaputtgegangen und zerbrochen ist, dass unter uns Brunnen sprudeln und Wasser des Lebens bereithalten nach langen bitteren Durststrecken, das kann schon anfangen auch ohne Steine und Mauern. Das kann Nahrung bekommen auch heute, wenn wir essen und trinken. Manchmal spüren wir es, wenn wir das Leben zelebrieren wie der, der zu feiern angefangen hat mitten in den Stätten des Todes. In der Fremde nehmen schon die Konturen einer neuen Stadt Gestalt an, der Stadt der Träume. Sie hat Platz auch für uns. Amen

Predigt am 20.11.2010 (Ewigkeitssonntag)

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