Eine Olympiade in den USA. Es war der 400-Meter-Endlauf der Männer. Acht Läufer haben sich für die Endrunde qualifiziert. Der Schiedsrichter pfeift und die acht starten vorwärts. Schon bald ist zu sehen, wer zuerst ans Ziel kommen kann und wer zum Mittelfeld gehört. Die letzten kommen mühsam voran. Die Zuschauer beobachten das Rennen gebannt und feuern alle lautstark an.
Kurz vor dem Ziel stolpert der führende Läufer. Er stürzt zu Boden. Dem Publikum stockt der Atem. Das ist die Chance für den zweiten. Doch der zweite zieht nicht vorbei, um sich den Sieg zu sichern. „Er läuft zu dem Gestürzten, richtet ihn mühsam auf, greift unter seine Arme, schleppt ihn mit sich, und zu zweit humpeln sie weiter. Da kommen die anderen auch schon voran, aber auch sie laufen nun nicht an den beiden vorbei, sondern auf sie zu. Alle greifen sich unter die Arme, den Gestürzten haben sie in der Mitte, und so laufen und schleppen sie sich gemeinsam ins Ziel.“ (Willi Hoffsümmer Kurzgeschichten 6, Mainz 2000, S. 119)
Die Zuschauerinnen und Zuschauer schauen sich erst verwundert an. Dann brechen auch sie in Jubel aus.
Es ist ein besonderer Sieg und eine besonderer Wettkampf. Den 800-Meter-Endlauf der Männer haben alle gewonnen. Und die Olympiade war eine Olympiade behinderter Menschen. Es war ein Ausscheid von Menschen, die gehandicapt sind, die nicht der Norm entsprechen, die nicht elegant laufen können. Hier sind Leute gestartet, die humpeln und auf Krücken angewiesen sind, und sie haben gewonnen, alle miteinander.
Ich weiß nicht, ob diese Geschichte in den USA so stattgefunden hat, wie ich sie in einem Buch gelesen habe. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß sie auch hier in Sangerhausen passieren könnte, nämlich im Christlichen Jugenddorf. Ich glaube, daß sie so oder so ähnlich in Sangerhausen tatsächlich passiert ist. Denn im CJD wird viel Sport getrieben und es finden immer wieder Wettkämpfe statt. Und ich darf immer wieder erleben, wie fröhlich es im CJD zugeht, bunt, direkt und eben anders. Wettbewerbe, bei denen es keine Verlierer gibt, sondern alle gewinnen und sich gemeinsam freuen – sie sind da durchaus möglich.
Bei den Nicht-Behinderten geht es oft anders zu. Verbissener. Wir glauben, daß es nur dann etwas zu gewinnen gibt, wenn andere verlieren. So haben wir die Welt auch eingerichtet. Der Profit der Einen, der Großen, geht auf Kosten der anderen, der Kleinen. Immer wieder finden sich Menschen auf der Verliererseite wieder. Mitten im reichen Deutschland landen sie in der Armutsfalle. Weltweit noch mehr. Sie arbeiten in Textilfabriken in Bangladesh oder auf Kaffeeplantagen Lateinamerikas. Uns wird eingeredet: Nachhaltigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Umweltschutz oder gerechte Löhne – das ist zu teuer. Oder es heißt: Flüchtlinge aufnehmen, immer mehr alte Menschen pflegen – das sprengt langfristig unser Budget. Wir müssen aussortieren. Und wenn wir uns für das oder die einen entscheiden, entscheiden wir uns zugleich gegen die anderen. Entweder ökologisch oder wirtschaftlich. Wenn alle gerechte und faire Löhne bekämen, bliebe für uns nichts mehr übrig.
Dieses Entweder-Oder steckt in unseren Köpfen fest drin. Aber es ist eine Falle. Es geht auch anders. In Gottes Welt, in Gottes Reich jedenfalls geht es anders zu. Da ist für alle Platz. Da haben alle eine Chance. Auch die Krüppel und die Fußlahmen, die Ungeschickten und die Langsamen.
Solidarisch heißt die Friedensdekade in diesem Jahr. Solidarisch, das ist das Gegenwort von Auf – Kosten der Anderen leben, das Gegenwort zum Kampf aller gegen aller. Solidarisch, das schmeckt nach Reich Gottes, nach Gottes neuer Welt.
Solidarisch sein verbindet die einen mit den anderen. Es verbindet die Cleveren mit den Bedächtigen, die Phantasievollen mit den Genauen, die Alten mit den Jungen, den Norden mit dem Süden. Solidarisch sein verbindet die, die etwas haben, etwa Geld, mit denen, die davon zu wenig haben – die aber dafür über anderes verfügen, zum Beispiel Zeit. Beide entdecken, daß sie alle etwas geben können und daß alle etwas brauchen. Niemand hat schon alles. Wenn wir uns zusammentun, werden wir nicht etwa ärmer, sondern reicher. Das ist eine andere Logik als die vom Gewinnen auf Kosten anderer. Vielleicht können nur die sie entdecken, die aus unseren Systemen herausgefallen sind oder die nie drin waren, weil sie angeblich nichts Verwertbares zu bieten haben.
Wir führen heute den Gemeindekirchenrat ein. Auch in der Kirche geht es um Effizienz und Wirtschaftlichkeit. Pfarrbereiche werden zusammengelegt. Die Entfernungen werden immer größer. Mitarbeitende klappen zusammen. Es kann es nicht weitergehen wie bisher. Die Gemeindekirchenräte müssen neue Wege suchen. Sie müssen Perspektiven verändern, Kirche neu denken.
Jesus stellt die Kinder in den Mittelpunkt. In einer Männergesellschaft hört er auf eine Frau. Er umgibt sich mit Armen, mit Kranken, mit Außenseitern, mit komischen Gestalten, über die die etablierte Gesellschaft die Nase rümpft. Es wird den Gemeindekirchenräten weiterhelfen, wenn sie sich daran erinnern, für wen Kirche da ist. Und wenn sie ins Zentrum rücken, kommen uns vielleicht auch neue Ideen. Die Ver-Rückten, die wir „normalerweise“ nicht als Vorbilder für wünschenswerte Lebensläufe nehmen, sie können uns helfen, daß wir unsere Perspektive ver-rücken.
Wir können von den Ver-rückten, von Kindern, Alten, Krüppeln und Hinkebeinen lernen. Alle haben etwas davon, wenn wir aufeinander achten. Wir kommen weiter, wenn wir gemeinsam gehen und die unterstützen, die hinfallen, so wie bei der Olympiade der fröhlichen Leute.
Predigt am 10.11.2013 zur Eröffnung der Friedensdekade „Solidarisch?“ und zur Einführung des Gemeindekirchenrates
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