Eine junge Frau geht nach Berlin, in die Hauptstadt, wo etwas los ist. Sie heiratet dort. Ihr Mann hat Medizin studiert. Nach 1 Jahr kommt ein Kind, ein Sohn, 4 Jahre später ein Geschwisterchen. Die junge Familie zieht in den Prenzlauer Berg. Ihr Mann eröffnet eine Arztpraxis. So lernt auch sie die Leute kennen, einfache Leute. Sie sieht auch viel Elend. Das prägt sie. Sozialkritisch sei sie, wird ihr nachgesagt. Als sie mit 31 Jahren für eine Auszeichnung vorgeschlagen wurde, verhindert das die Regierung: zu unangepasst sei sie, nicht gesellschaftsfähig.
Dann kommt Krieg. Ihr 2. Sohn zieht als einer der ersten an die Front. Und fällt sofort – mit 18 Jahren. Das ist ein entsetzlicher Schmerz für die junge Mutter (47 Jahre). Sie sieht, wie sinnlos dieser Tod ist, wie sinnlos junge Männer verletzt werden und sterben; sie sieht, wie sinnlos dieser Krieg und alle Kriege sind. Sie wird zur Pazifistin, später auch zur Sozialistin.
Ihr Mann hätte in einer der besseren Gegenden eine Privatpraxis eröffnen können, in Wilmersdorf, am Kudamm. Er will nicht. Er bleibt Kassenarzt im Prenzlauer Berg. Die junge Frau, inzwischen berühmt, hätte zu den Reichen und den Schönen gehören können, hätte sie malen können. Denn sie ist inzwischen eine angesehene Künstlerin. Aber sie will es nicht. Käthe Kollwitz – so heißt die Frau – malt die einfachen Leute und ihr Leid. Käthe Kollwitz, 1867 in Königsberg geboren, 1891 nach Berlin gezogen, verheiratet mit dem Armenarzt Karl Kollwitz. Als erste Frau Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. 1933 zum Austritt gezwungen und ihres Amtes als Leiterin der Meisterklasse für Grafik enthoben, weil sie sich gegen die Nazis ausspricht.
Sie malt die einfachen Leute und ihre Armut. Die Frauen, die nicht wissen, wie die nächste Miete bezahlen sollen, das Lichtgeld, die Kohlen. Die Frauen, die ihre Söhne verabschiedet haben, als die in niegelnagelneuen Uniformen in den Krieg zogen, verblendet, voll Begeisterung und Stolz die ersten, und später die anderen, die wußten, daß sie nur Kanonenfutter waren, und die verstümmelt zurückkommen, ohne Arm, an Krücken, im Rollstuhl. Sie malt die Mütter, die gebangt haben, als in den Zeitungen stand von den Gräben und den Kesseln, ob er dabei ist, die gewartet haben, die zusammenbrachen, als der Brief kam: gefallen auf dem Feld der Ehre.
Sie kannte die Not der Frauen mit den vielen Kindern an der Hand, denen ihr Mann in der Praxis eröffnete: Sie sind guter Hoffnung, und ihren erstickten Aufschrei: wie soll es denn satt werden. Den Schreck, wenn das Kind von einem war, der nicht ihr Ehemann war. Der Kummer des jungen Mädchens, die um ihr verlorenes Glück weinte, die Verzweiflung der Frau, der Gewalt angetan wurde. Das Totenbett der Frau, die es selbst versucht hatte und verblutet war. Auf Abtreibung stand 5 Jahre Zuchthaus.
Käthe Kollwitz hatte sie vor Augen, als sie 1924 ein Plakat entwarf: „Nieder mit dem Abtreibungsparagraphen“. 1927 wurde Abtreibung aus medizinischen Gründen erstmals vom Reichskammergericht anerkannt.
Und immer wieder malte sie den Tod. Wie er die Menschen holt. Wie er den Müttern die Kinder entreißt und den Kindern die Eltern. Die Bilder zeigen die Verzweiflung und die Grausamkeit. Die Waisen am Bett der Mutter. Der Tod, der das kleine Kind mitnimmt. Meistens sind es die Stuben der Armen, an die er klopft. So ist es bis heute: Arme werden früher krank, sterben eher. Käthe Kollwitz‘ Plastik Mutter mit totem Sohn steht in der Neuen Wache in Berlin, der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft
Aber ein Bild ist anders. Es zeigt zwei Frauen, die einander im Arm halten. Zwei Frauen lehnen sich eng aneinander. Die eine birgt die andere im Arm. Sie ist erschöpft, hat die Augen geschlossen. Hier kann sie ausruhen, kann sich fallenlassen, kann weinen. Ihr Kopf ruht an der Schulter, am Gesicht der größeren. Die hält sie sicher mit dem linken Arm, wiegt sie an der Seite ihres Herzens. In der rechten Hand hat sie ein Tuch und wischt ihr vorsichtig die Tränen ab. Zwei Frauen, die einander trösten.
Die Grafik hat zwei Titel: „Weinende Frauen“ lautet der eine. An anderer Stelle heißt die Grafik: „Der Tod tröstet“.
Der Tod tröstet. Dieser Tod ist anders. Der Schmerz, das Grausame ist vorbei. Es ist genug gelitten.
Der Tod – ist es die Frau, deren Gesicht im Verborgenen bleibt? So wie eine Schwester, die die Weinenden und Trauernden zärtlich in ihre Arme nimmt. Die Freundin, die die Erschöpften an ihrem Herzen wiegt. Bei der die Anspannung sich lösen, die Tränen endlich fließen können. Diese Freundin trägt das Gesicht der Tröstlichen, bei der alle Dinge wieder heil werden.
Der Tod tröstet. Verbirgt Gott sich in ihr wie eine behutsame Schwester, die uns am Ende bei sich birgt? Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, heißt es in der Bibel.
Käthe Kollwitz hat viele Bilder gestaltet, auf denen sie Sterben und Tod zeigt. Sie hat die Tränen der Trauernden festgehalten, die Erstarrung, die Fragen. Sie hat die verschiedenen Gesichter des Sterbens gemalt. Das Sterben hat auch für die Leute viele Gesichter, die heute auf den Friedhof kommen. Die Gesichter der Menschen, die wir im Laufe der Jahre haben gehen sehen, die Hoffnungen, die wir loslassen müssen. Mutter und Vater, PartnerIn, Kinder, geborene und ungeborene. Der Tod hat viele Gesichter, auch für uns, unerbittliche, fremde, vertraute, lang ersehnte. Aus welchem Antlitz blickt er uns an, blickt sie uns an?
Bei Käthe Kollwitz erscheint er wie zwei Frauen, die einander Geborgenheit geben und sich in den Armen halten. Der Tod tröstet. Möge es auch bei uns so sein, daß am Ende alle Anspannung abfällt: Der Tod tröstet. Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Predigt am 24.11.2013 (Totensonntag)
Die Hoffnung bleibt wach Luzia Sutter Rehmann
eines Tages oder Nachts wird Gott zuhören
mich und dich ansehen
und verstehen
wir werden weinen
und aller Schmerz
und alle Schuld wird sich in diesen Tränen lösen
wird der unendlichen Erleichterung weichen
ganz Wasser zu werden, zu fließen, zu heilen