Vor lauter Aufregung wäre Martin fast ohne Mütze losgestürmt. Dabei stieben dicke Schneeflocken vor der Haustür an diesem Januarsonntag. Doch Martin hat nur einen Gedanken im Kopf: den Kindergarten. Ungeduldig zieht er seine Mutter hinter sich her. In der großen Toreinfahrt in der Riestedter Straße warten schon andere Kinder mit ihren Eltern und hüpfen von einem Fuß auf den anderen. Mit einem Schlag wird alles still. Der Posaunenchor stimmt ein feierliches Lied an, der Pfarrer spricht ein Gebet, und als die Türen des neuen Kindergartens endlich geöffnet werden, gibt es ein mächtiges Gedränge. So viele kleine Stühle und Tische! Ein Steckenpferd! Puppen mit klappernden Augen! Und ein Kreuz an der Wand. Auch Martin ist entzückt. Hierher würde er gerne kommen.
Am nächsten Morgen hängt Martin sich seine Brottasche um und stapft mit wichtiger Miene los. Eine Erzieherin nimmt ihn in Empfang, zeigt ihm seinen Garderobenhaken und führt ihn zu seinem Stuhl. Als das Mittagessen hereingetragen wird, hat Martin schon seinen ersten Freund gefunden.
Nach ein paar Tagen klopft es. Ein großer Mann steckt seinen schwarzen Schopf zur Tür hinein. Martin erkennt ihn gleich. Es ist der Pfarrer vom Sonntag. Gefällt es euch hier, fragt er, der Kindergarten war meine Idee!
Von diesem Tag an ist der kleine Martin beeindruckt von dem großen Mann. Hast du wieder eine Idee, fragt Martin ihn immer, wenn er ihn trifft. Und Pfarrer Gubalke – so heißt er – hat Ideen! Mal schickt er Bauarbeiter. Die pflastern die Einfahrt unter dem großen Torbogen und bauen einen Weg zum Kindergarten. So bekommen die Kinder keine schmutzigen Schuhe mehr. Ein Jahr später verrät Pfarrer Gubalke: Sangerhausen hat jetzt eine Kinderkrippe! Martin besichtigt sie im Morungshof und wagt kaum zu atmen, als er die ganz Kleinen in ihren Bettchen schlummern sieht. Kurz bevor Martin in die Schule kommt, traut er seinen Augen kaum, als er eines Tages im Hof zwei Eisenbahnwagen sieht. Pfarrer Gubalke hat sie aufstellen lassen für Familien, die keine Wohnung fanden. Die Kirche muß etwas für Arme und für Obdachlose tun, findet Pfarrer Gubalke – und Martin findet das ebenfalls. So stattet er auch als Schuljunge dem Kindergarten immer mal wieder einen Besuch ab und wartet sehnsüchtig auf die Zeit, in der er zum Konfirmandenunterricht zu Pfarrer Gubalke gehen kann.
Doch dann ändert sich alles. Eine neue Regierung unter Adolf Hitler übernimmt die Macht in Deutschland. Männer in Uniform marschieren dröhnend über die Straßen. „Arbeitslose sind faul“, behaupten sie. „Russen und Zigeuner haben bei uns nichts zu suchen. Und was die Kinder im Kindergarten lernen, bestimmen wir und nicht der Pfarrer.“
Martin kann es nicht fassen, wie viele Leute in Sangerhausen Beifall klatschen. Der Kindergarten wird Hitlers „Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt“ unterstellt und Pfarrer Gubalke entlassen. Sechs Jahre später gibt es Krieg.
Die jungen Leute werden in Uniformen gesteckt. Auch Martin muß Soldat werden. Quer durch Europa wird er geschickt. Seine Mutter scheibt ihm Postkarten: „Wir haben kaum noch etwas zu essen. Der Kindergarten wurde geschlossen. Alle Räume sind jetzt vollgestopft mit Betten für Flüchtlinge.“
Martin sieht den schiefen Kirchturm von Sangerhausen erst wieder, als der Krieg vorbei ist. Er ist jetzt ein erwachsener Mann. Die Mädchen umschwärmen ihn, und nach ein paar Jahren schiebt er selbst einen Kinderwagen durch die Riestedter Straße. Das große runde Tor zum Kindergarten steht wieder offen. Auf dem Hof springen ihm Kinder entgegen: Wir haben eine neue Tante! Tante Ruth!
Nach ein paar Monaten sitzt Martins Sohn auf den Stühlchen von einst.
Wenn Martin ihn am Nachmittag bei Tante Ruth in Empfang nimmt, plappert der Knirps pausenlos. Daß ein neuer Gruppenraum angebaut wird. Daß es jetzt einen Sandkasten gibt. So erfährt Martin auch die kleinste Veränderung.
Jahre vergehen. Martin bekommt graue Haare und wird Großvater. Natürlich geht auch sein Enkel in den Kindergarten. Der bringt eines Nachmittags eine Neuigkeit mit, die so unglaublich klingt, daß Martin sich sofort das Telefon schnappt: „Wir bekommen noch einen Kindergarten. Wir ziehen um. In eine Villa.“
Der Pfarrer heißt jetzt nicht mehr Gubalke, sondern Bartels. Martin pfeift leise zwischen den Zähnen, als Pfarrer Bartels am Telefon von seinen Plänen schwärmt: „Evangelische Kirche und katholische Kirche gründen einen Verein, zusammen mit vielen Leuten. Der Stadtparkkindergarten und unserer ziehen in ein Haus. Und der neue Kindergarten bekommt einen neuen Namen, Sankt Martin.“ Daß sein Namenspatron immer geteilt hat, hat Martin schon bei Pfarrer Gubalke gelernt. Aber Pfarrer Bartels, murmelt Martin, der hat auch Ideen! Keine Frage, diesem Verein würde Martin beitreten.
Pfarrerin Margot Runge
Vor 90 Jahren, am 27.1.1924, wurde der evangelische Kindergarten eröffnet.
Vor 20 Jahren, Im Februar 1994, wurde der Sankt-Martin-Verein gegründet.
Wir gratulieren zu beiden Jubiläen!