Niemand wollte mehr in das Haus hineingehen an jenem Dienstag. Im antiken Griechenland hätten die Schlangen, die Hunde und die Katzen wahrscheinlich schon längst das Weite gesucht, und die Leute hätten den Instinkt der Tiere als warnendes Omen gedeutet. Das antike Griechenland mit seinen heiligen Schlangen gab es schon längst nicht mehr. Doch das ungute Gefühl der Menschen war auch so stark und sie weigerten sich hineinzugehen. Es nützte ihnen nichts. Sie wurden gezwungen. Um 9 Uhr brach das Haus zusammen und begrub Tausende unter sich. Es war der 24. April 2013 in Bangladesh. 1127 Menschen starben, mehr als doppelt so viel wurden verletzt. Nicht nur das Fundament, das ganze Haus war marode. Ein Bau, errichtet aus Geiz und Geschäftemacherei.
Solche Unglücke passieren immer wieder. Türen sind versperrt – ein Feuer bricht aus. Treppen brechen zusammen, Notausgänge fehlen. Es sind die Gefängnisse für die Armen, die zu Todesfallen werden, die Computerfabriken oder die Nähereien, in denen sie im Akkord Turnschuhe und T-Shirts für den europäischen und amerikanischen Markt anfertigen. Die Wohnviertel der Armen, an den Stadträndern gebaut, sacken bei Erdrutschen als erste zusammen oder werden von Sturzbächen weggespült. Aus den zusammengeflickten Hütten aus Wellblech suchen sie Zuflucht in Turnhallen, Notunterkünfte und Zeltstädte, Provisorien für Jahrzehnte.
Nicht die Lehmhütten der kleinen Leute überdauern die Geschichte, sondern die Steinbauten der Mächtigen, ihre Monumente, die von ihnen und ihren Göttern, ihrem Einfluß und Wohlstand künden.
Ihr seid Gottes Bau. Ein jeder sehe zu, wie er baut. Solide bauen, wie Paulus es schreibt, das bleibt für viele ein schöner Traum. Qualität hatte schon immer ihren Preis. Gold, Silber und Edelsteine oder Holz, Heu und Stroh, diese Frage stellt sich nicht für Leute, die jeden Cent, jeden Denar dreimal umdrehen müssen, damit die Kinder satt werden. Diese Frage stellte sich damals nicht und heute auch nicht. Ein ordentliches Fundament ist teuer. Auch bei uns können sich nicht alle eine Unterkellerung leisten. Die Häuser der Reichen sind solide. Ihre Tempel, Paläste, Loggien brechen nicht so schnell zusammen.
Ein jeder sehe zu, wie er baut. Paulus hat selbst anderthalb Jahre in Korinth gelebt. Er kannte die Stadt, ihre Bauten und ihre Viertel. Korinth, das war die Akropolis, die Geschäftsviertel, die Hafenkneipen, die Handwerkerviertel, die Agora, die Bibliothek, die marmornen Herrenhäuser mit den Innenhöfen, in denen sich Bürger bei prächtigen Gastmählern vergnügten und die Sklaven flitzen ließen, Sklaven auch aus der Gemeinde, die erst zum Gottesdienst kommen konnten, wenn die letzten Teller abgewaschen waren.
Natürlich hat Paulus das Bild vom Haus auch im übertragenen Sinn gemeint, das Haus als Symbol.
Das gemeinsame Haus Europa wurde zum Hoffnungsbild. In der bleiernen und verkrusteten DDR klang es wie Musik für junge Leute, die mit der Mauer aufgewachsen waren und mit den Phrasen von Klassenkampf und der Wachsamkeit gegenüber Feinden des Sozialismus. 1987 entwickelte Michael Gorbatschow die Vision vom gemeinsamen Haus Europa. Sie nährte Hoffnung bei vielen, die sich an der Enge der „Staatsorgane“ aufrieben und sich nach Veränderungen sehnten.
Gorbatschows Vision dachte vor, wie unterschiedliche Systeme friedlich miteinander leben konnten, und schlug eine erste Bresche in die Mauer. Nach 1990 wurde das gemeinsame Haus Europa zum Leitbild, wie ein neues Verhältnis der Staaten Europas nach dem Zerfall des Sozialismus aussehen könnte.
Interessanterweise ist dieses Bild heute vollkommen verschwunden. Kaum jemand vergleicht Europa heute mit einem Haus. Schleichend hat es sich zur Festung verwandelt. Während sich die Grenzen der EU von Gesetzen, Zoll und Euro immer weiter nach Osten und Süden ausdehnen, werden sie gleichzeitig undurchlässiger für alle außerhalb, und diese Grenzen werden aufgerüstet. Die Mauer teilt nicht mehr Europa, sondern sie umgibt es jetzt und schirmt es ab. Die draußen, das sind Eindringlinge, Nichtdazugehörige, Leute, die auf unsere Kosten leben und unsere Sozialsysteme ausnutzen wollen. Haut ab, verpisst euch, Zukunft den deutschen Kindern schmierten Sangerhäuser am Montag in die Unterkunft der Asylbewerber, bevor sie versuchten, sie anzuzünden. Für Leute von außerhalb gibt es kein Europa der offenen Türen, sondern Frontex, Abschiebelager und Brandsätze. Gemeinsames Haus Europa?
Ihr seid Gottes Ackerland und Gottes Bau. Seht zu, wie ihr baut. Die Bilder verschwimmen. Ihr seid göttliches Ackerland, ihr baut, ihr seid selbst ein wundervolles Gebäude, Bausteine Gottes. Was wir tun, erzählt davon, wer wir sind, wie wir sind. Wie die Welt um uns herum aussieht, erzählt etwas über uns, die wir sie prägen. Was ist aus den Zuständen über uns herauszulesen?
Wer wir sind, was wir tun, ist eins. Unsere Städte und Dörfer erzählen von uns. Unsere Kirchen erzählen von uns. Unsere Gefängnisse, unsere Psychiatrien und Pflegeheime, die Frauenhäuser, Obdachlosenunterkünfte und Asylheime, die Slums und die Einkaufstempel, die leergezogenen Plattenbauten, die billig hochgezogenen Fabriken ohne Notausgänge, die Zeltstädte voller Flüchtlinge und die Siedlungen der Armen ohne Licht und Wasser an der Peripherie unseres Bewußtseins – sie alle erzählen von uns. Was ist daran abzulesen über uns? Wer sind wir?
Paulus träumt: Gott wohnt in einem Haus, wir selbst gestalten und errichten dieses Haus, ja wir sind selbst Bausteine, sind selbst Hütte Gottes. Das Bild vom Haus kann für uns heute ein Hoffnungsbild sein, das Bild vom gemeinsamen Haus Europa, das Bild vom Haus der Welt. Ein Haus mit Türen und Fenstern, mit verschiedenen Eingängen und Wohnungen, ein Haus, in dem ganz unterschiedliche Mieter, Völker, Kulturen zusammen sein können, ein Haus, das viel Platz hat und dennoch allen ein Dach bietet. Ein solches Haus, das könnte wirklich Gottes Hütte bei den Völkern sein. Und wir, wir arbeiten daran als Bauleute des Friedens.
Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis
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