„Gott ist barmherzig und gnädig, der Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft läßt er niemand, sondern sucht die Missetat der Eltern heim an Kindern und Enkeln bis in die dritte und vierte Generation.“ (Ex 34. 6b-7) Gnade über tausende Generationen: solche Worte tun gut und sind tröstlich. Es gibt eine Tradition des Guten, und sie ist stärker als das Kaputte und Böse. Der Segen des Guten pflanzt sich fort. Er reicht weit hinaus über unser eigenes Leben. Wir wissen ebenso, daß sich Verletzungen über Generationen weitergeben. Die Enkel der Holocaust-Opfer tragen unbewußt weiter, was ihren Großeltern angetan wurde, die Angst ums Überleben. Doch genauso und noch mehr soll sich auch das Gute in einer Familie fortpflanzen. Kinder erleben, wie Eltern spenden oder ihre Zeit teilen, sie erleben ein offenes Haus und Herzlichkeit und praktizieren das später mit großer Selbstverständlichkeit mit ihren Kindern und Enkeln. Das wirkt weiter und strahlt aus.
Diese Worte des Trostes sind allerdings nicht an einzelne gerichtet. Sie gelten dem israelitischen Volk, das der Sklaverei entronnen ist und nun unterwegs zur Freiheit ist. Wie ist das heute? Gibt Gott Segen und auch Strafe nicht nur für einzelne, sondern für ganze Völker oder Staaten?
Daß ein ganzes Volk bestraft wird, so zu denken ist zynisch und ungerecht gegenüber allen, die sich in ihren Ländern mutig einsetzen gegen Sumpf und Korruption, die für die Freiheit ins Gefängnis wandern, die Lichter der Hoffnung anzünden. Ein Volk wird von Gott bestraft, das zu denken entwertet den Mut der Wenigen, die sich wehren und die mühsam nach neuen Wegen suchen, wo die meisten sich anpassen oder von dem System profitieren. Und kann ein Volk als solches gesegnet sein? Eine auserwählte, begnadete, besondere Nation seien die Deutschen, lernten die Kinder ab 1933 in der Schule, besser als die anderen. Diese Überheblichkeit kostete Millionen das Leben.
„Gott ist barmherzig und gnädig, der Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft läßt er niemand, sondern sucht die Missetat der Eltern heim an Kindern und Enkeln bis in die dritte und vierte Generation.“ In diesen Wochen, wo wir der Friedlichen Revolution gedenken, aber auch des Beginns zweier Weltkriege vor 75 und 100 Jahren, denken wir sofort an unsere deutsche Geschichte. Menschen und auch Völker sind verantwortlich für ihre Taten. Sie wirken sich aus, wirken nach, manchmal über Generationen. Der Untertanengeist der Kaiserzeit. Der Nationalismus und die Menschenverachtung der Nazis: Die Deutschen sind die besten. Die Nischengesellschaft der DDR, daß die meisten es sich in ihrer privaten Nische bequem gemacht haben und nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, sich nicht engagieren.
Es gibt eine kollektive Verantwortung. Wir tragen unsere Geschichte mit uns herum, und es hängt uns an, was unsere Vorfahren angerichtet haben. Denn die Wunden sind längst nicht verheilt.
Wenn wir als Deutsche nach Polen, nach Holland, nach Griechenland fahren, dann sind wir dort manchmal immer noch die Nachkommen der Besatzer, der Mörder von einst – egal was unsere eigenen Großeltern damals getan haben. In der DDR wurden Jugendliche in Jugendwerkhöfe gesteckt, Kinder ihren Eltern weggenommen und zwangsadoptiert. In einer Poliklinik mitten in Halle / Saale wurden Frauen in einer geschlossenen Station eingesperrt, ohne Urteil und bis heute ohne Rehabilitation. Jahrelang tragen Opfer ihre Wunden mit sich herum, während die, die einst dafür verantwortlich waren, wieder obenauf sind, ja sich nicht einmal dessen bewußt sind, was sie angerichtet haben.
Am Montag hat uns die Stasi-Unterlagenbeauftragte in der Jacobikirche an die vergessenen Opfer der DDR-Zeit erinnert. Sie hat uns Mut gemacht, unsere Geschichte aufzuarbeiten. Aufarbeiten ist das Gegenmodell von Vergessen oder Schlußstrich, hat sie gesagt.
Es zahlt sich aus, wenn wir Verantwortung übernehmen. Wie gut würde das tun: die Kirche entschuldigt sich für die Hexenverfolgung. Oder eine Kreissynode bedankt sich bei den Aktiven von vor 1989, denen in der DDR von der Kirchenkreisleitung Steine in den Weg gelegt worden waren. Eine Schule entschuldigt sich offiziell dafür, daß sie Kindern, die keine Jugendweihe mitgemacht haben, das Leben schwergemacht und ihnen die Karriere verbaut hat. Die Lehrer_innen von damals sind wahrscheinlich längst ausgeschieden, das Kollegium ein anderes. Aber für die einstigen Schüler_innen ist es wichtig. Das, was ihnen angetan wurde, wird ehrlichen Herzens als Unrecht anerkannt. So können Wunden heilen.
„Aktion Sühnezeichen“ hat das gegenüber den östlichen Nachbarländern umgesetzt. Junge Menschen arbeiten in Pflegeheimen oder in ehemaligen Lagern. Indem sie etwas aufbauen, knüpfen sie Verbindungen zu heutigen Jugendlichen, den Enkeln der Überfallenen, und tragen Gutes zu den Nachfahren derer, die Böses durch uns erlebt haben. Wenn wir so Verantwortung übernehmen, gibt das auch uns unsere Würde zurück.
Doch die Geschichte aus dem zweiten Mosebuch ist eine fremde Geschichte aus einer fremden Zeit. Ich will diese Fremdheit nicht wegreden.
Im nächsten Satz ist von Vertreibung und Zerstörung die Rede. Das Land, das den Israelit_innen zugedacht ist, wird fremden Menschen, fremden Völkern weggenommen. Sie werden angewiesen, wie sie über diese Menschen denken, sie bewerten sollen. Sie sollen sich auf keinen Fall mit ihnen bekanntmachen, befreunden, vermischen. Sie sollen sich nicht mit ihren Gedanken, Einstellungen, ihrer Kultur auseinandersetzen – integrieren, würden wir heute sagen. Sondern sie sollen sie einfach ablehnen. Sie zerstören und verwüsten ihre heiligen Stätten.
„Beachte sorgfältig, was ich dir heute auftrage. Ich werde die anderen Völker vor euch vertreiben, die amoritischen, kanaanäischen, hetitischen, perisitischen, hiwitischen und jebusitischen Stämme. Schließt nur ja keine Verträge mit diesen Menschen, die du dort antriffst. Das würde euch ins Verderben stürzen. Ihr sollt vielmehr ihre Altäre zerstören, ihre Steinsäulen zerschlagen, ihre heiligen Bäume fällen.“ (Ex 32,11-13, Übersetzung BigS)
Land, Wohlstand auf Kosten anderer? Fremde Völker einfach abwerten, noch dazu um Namen Gottes? Wir finden das heute befremdlich, mit Recht. Und gleichzeitig profitieren wir in Westeuropa bis heute von dieser Weltordnung im reichen Norden gegenüber den armen Ländern des Südens.
Der Abschnitt im zweiten Mosebuch spiegelt Erfahrungen wider, die die Menschen auch damals gemacht haben. Sie erzählt von Wanderungsbewegungen. Volksgruppen sind unter die Räder gekommen, wurden aufgerieben. Andere haben ihren Platz eingenommen, haben sich entfaltet, ihre Kultur blühte. Ist das frohe Botschaft? Damals und für uns heute?
Gottes Wort – es ist sehr verborgen. Da stehen Sätze, Gedanken, die mich sofort ansprechen und faszinieren direkt neben solchen, über die ich den Kopf schüttle. Wo finden wir, was Gottes wirklich will?
Ich glaube, wir finden es darin, daß Gnade überwiegt. Es gibt eine Linie des Segens, und sie ist stärker als das Zerstörerische. Das Gute wirkt länger weiter als das Böse. Das scheint unseren Erfahrungen zu widersprechen. Verletzungen sitzen oft tief. Geschichten von Vertreibung, Gewalt und Unrecht zeichnen sich tief ein in die Schicksale von Menschen und übrigens auch von Völkern. Die Bibel sagt: Der Segen wirkt weiter. Er wirkt über tausend Generationen hinweg, unvorstellbar lange Zeiträume. Das Gute, das Menschen tun, ist nicht vergebens. Es wirkt weiter, und wir können es weitergeben.
Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis
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