Politiker*innen wollen keine Schwäche zeigen. Auch nicht persönlich. Denn in der Politik wird hart ausgeteilt. Und wer zeigt, dass er oder sie verletzt ist, hat von vornherein verloren. So schirmen viele, die in der Öffentlichkeit stehen, ihr Privatleben sorgfältig ab. Traurig sein, niedergeschlagen, erschöpft – das alles gehört sich im Politikbetrieb nicht. Dabei haben sie ja Sorgen wie alle anderen Leute auch. Die Kinder nörgeln und nerven den ganzen Nachmittag. Der Rücken tut weh. Das Herz meldet sich. Ein Todesfall in der Familie. Streit mit Angehörigen. Davon soll niemand etwas merken. Natürlich gibt es für die Presse Familienfotos. Da werden dann gut geratene Kinder präsentiert oder der Urlaubsbummel am Strand von Warnemünde.
Doch zu jeder Tages- und Nachtzeit funktionieren wollen, das geht nicht spurlos vorüber. Das erhöhte Suchtrisiko zeigt es. Nicht nur sich selbst tun sie damit keinen guten Dienst. Es setzt auch Maßstäbe für alle. Zugleich ist es ein Spiegel dafür, was die Leistungs- und Erlebnisgesellschaft erwartet: Zeigt keine Schwäche. Zeigt nicht, wenn ihr krank seid, ausgebrannt oder am Ende, Depressionen, Burnout oder Verzweiflung – das wollen wir nicht sehen.
Doch es geht auch anders. König Hiskia etwa.** Er ist krank, todkrank. Aber er spricht darüber, was die Krankheit mit ihm macht. Er läßt die Menschen in sein Inneres schauen. Er gibt zu, wie hoffnungslos er ist. Er sagt offen, dass er am Ende ist und dem Tod nah. Er traut sich, in aller Öffentlichkeit zu klagen.
Seine Worte berühren, denn er findet erschütternde Bilder für sein Inneres. Hier spricht ein Mensch, kein König. Er spielt die Rolle nicht mehr mit, die von einem König erwartet wird.
Es gehört zum Leben dazu, dass nicht alles glatt geht. Jede* schlägt sich irgendwann mit Misserfolgen herum – die im übrigen manchmal wichtiger sind als das, was gelingt. Alle finden sich irgendwann einmal vor einem Berg von Problemen wieder, die unlösbar erscheinen. Oder werden krank, müssen mit Trauer und Verlust zurechtkommen. Wenn wir das permanent verschweigen und verleugnen, werden wir nie lernen, damit umzugehen. Deshalb brauchen wir Vorbilder für schwierige Zeiten. Es gibt uns Verhaltensmuster, wenn wir sehen, wie Menschen darauf reagieren, dass sie verwundet oder krank sind.
Hiskia macht es vor. Er löst sich von dem, was „die Leute“ von einem König erwarten. Er nimmt seiner Umgebung auch die Unsicherheit, wie sie mit ihm umgehen sollen, ob sie ihn ansprechen sollen oder nicht. Sondern er nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht selbst darüber. Er sagt deutlich, wie es wirklich um ihn steht und was ihm auf der Seele liegt. Soviel Mut macht Mut. Auch uns kann das gut tun – und unserer Gesellschaft auch.
Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis über Jesaja 38, 9-20
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Andere Predigten im Jahreslauf
** Jes 38,9-20
Ein Text von Hiskija, dem König von Juda, als er krank war und seine Krankheit überlebte:
10 Ich sprach: In der Mitte meiner Lebenstage soll ich gehen, an die Tore des Totenreiches bin ich für den Rest meiner Jahre gestellt. 11 Ich sprach: Ich werde Gott nicht sehen, Gott im Land der Lebendigen. nun werde ich die Menschen nicht mehr sehen mit denen, die auf der Welt sind. 12Meine Kinder sind weggerissen, von mir weggeschleppt, wie bei einem Hirtenzelt: Ich habe mein Leben zusammengerollt wie ein Weber den Stoff, der Faden wird nun abgeschnitten. Tag und Nacht gibst du mein Leben preis. 13 Bis zum Morgen schreie ich um Hilfe, aber du zerbrichst alle meine Knochen wie ein Löwe. Tag und Nacht gibst du mein Leben preis. Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube.
Meine Augen werden klein, wenn ich mich zur Höhe wende: Gott, ich bin bedrängt, tritt für mich ein! 15 Was soll ich sagen und sie zu mir sprechen? Gott hat es doch selbst getan! Ich schreite alle meine Jahre ab, die Bitterkeit meines Lebens. 16 Gott, lass mich wieder genesen und leben! 17 Schau, um Trost war mir sehr bange. Aber du hast mein Leben vor dem Grab bewahrt, denn du hast alle meine Verfehlungen weit hinter dich geworfen. 18 Das Totenreich dankt dir ja nicht, der Tod lobt dich nicht. Für die, die in die Grube fahren, gibt es keine Hoffnung mehr auf deine Treue. 19 Allein wer lebt, kann dir danken – so wie ich heute. Eltern lassen die Kinder wissen: Du bist treu. 20 Gott ist da, um mich zu retten. Darum wollen wir singen und spielen alle Tage unsres Lebens beim Haus Gottes. (Bibel in gerechter Sprache, leicht verändert)