Die Heilung des Gelähmten als Männergeschichte

Es ist eine Männergeschichte. Jesus, der Gelähmte, die Freunde, die ihn tragen, die Schriftgelehrten – all die agierenden Personen sind Männer. Die Frauen, wenn sie denn im Haus sind wie zuvor die kranke Schwiegermutter des Petrus, bleiben im Hintergrund.

Und: die Geschichte ist merkwürdig stumm. Der Gelähmte sagt nichts, noch seine Freude. Wir hören nichts von seiner Not, keine Klage, keine Bitte, kein Hilferuf, keine Schilderung des langen Leidens und was sie vielleicht schon alles unternommen haben. Auch die Schriftgelehrten sagen nichts. Sie sprechen nicht aus, was sie denken. Ihr Widerstand bleibt stumm. Es wird viel geschwiegen in dieser Geschichte. Jesus ist der einzige, der redet.

Es kann unsicher machen, wenn soviel geschwiegen wird. Aber es kommt ja manchmal vor: Zusammenkünfte, Sitzungen, Familien, in denen alle nur dasitzen und sich nicht äußern. Jedenfalls nicht laut. Wer in eine solche Runde kommt oder sie sogar leiten muss, wird leicht unsicher. Was hat das Schweigen zu bedeuten? Zustimmung? Ablehnung? Boykott? Unfähigkeit zu folgen? Was wird verschwiegen und warum? Was soll, darf, kann nicht gesagt werden? Welche Konflikte schwelen unter der Decke? Oder ist es einfach nur Müdigkeit oder Überdruss? Schweigen kann etwas Lähmendes haben – und um einen Gelähmten geht es ja auch.

Die Lähmung spiegelt einen inneren Zustand wider. Auch wenn wir verspannt sind und steife Glieder haben, dann kann etwas blockiert sein in uns. Ein Hexenschuss schränkt auch die innere Beweglichkeit ein. Er nimmt uns Energie und die Fähigkeit, vorwärts zu gehen und unsere Lebensaufgaben anzupacken.

In dieser Geschichte spielen das Nonverbale und die Zeichen eine umso wichtigere Rolle. Da sind die Freunde. Sie schleppen den Gelähmten herbei, decken das Dach ab, tüfteln eine Lösung aus, um ihn hinunterzulassen.

Typisch Mann – eben eine Männergeschichte. Wo es etwas Praktisches zu helfen gibt, sind sie da: schrauben, reparieren, mit dem Auto mitnehmen. Wenn jemand eine Panne hat, und sind mit dem richtigen Werkzeug zur Stelle. Sie können unwahrscheinlich hilfsbereit sein. Es kann ihre Art sein, Zuwendung zu bekunden oder sich in der Beziehung einzubringen.
Manchmal bleibt es freilich auch bei dieser Art, besonders wenn es schwerfällt, Empfindungen, Konflikte oder Träume in Worte zu kleiden. Aber genau das ist nötig, damit unsere Beziehungen nicht erstarren und wir selbst nicht gelähmt werden.
Inzwischen finden sich viele Männer in solchen Rollenbildern nicht mehr wieder. Sie merken, wie traditionelle Erwartungen sie einengen. Sie definieren Männlichkeit neu und probieren neue Beziehungsmuster aus.

Der Gelähmte hat Freunde, vier sogar, eine kleine Männergruppe, und das spielt eine wichtige, rettende Rolle für ihn. Es ist nicht selbstverständlich, echte Freunde zu haben – solche, die mehr als nur Bekannte sind. Für Menschen mit Einschränkungen ist das noch weniger selbstverständlich. Wer länger krank ist, vereinsamt oft. Leute ziehen sich zurück. Manchmal sind es nur noch die engsten Familienangehörigen, die da sind und beistehen – oft über die Grenzen der eigenen Belastbarkeit hinaus.

Die Freunde in dieser Geschichte sind ein Gegenbild zu den Freunden des verlorenen Sohnes. Jene bleiben nur, solange der Wein fließt und das Geld. Als nichts mehr da ist, sind sie verschwunden, und der Sohn bleibt verloren in der Fremde zurück. Die Freunde des Gelähmten sind da, wenn er sie braucht. Sie haben ihn nicht aufgegeben – wo er sich vielleicht schon selbst aufgegeben hatte. Sie bringen ihn soweit, dass er heil werden kann. Sie steigen den Leuten, sie steigen Jesus buchstäblich aufs Dach. Es sind Freunde, die durch dick und dünn, durch Wand und Dach gehen. Und sie sind entschlossen und erfinderisch.

Wie tief diese Beziehung war, dass sie sich einander zu öffnen vermochten, das wissen wir nicht. Vielleicht war es wirklich nur das hilfsbereite, praktische Unter-die Arme-Greifen. Denn auch die Freunde bleiben ja stumm in der ganzen Geschichte. Aber eins haben sie auf jedem Fall begriffen, nämlich  dass er selbst sich schon gar nicht mehr helfen kann, dass er ganz und gar erstarrt ist. Und sie spüren heraus, wo er Hilfe bekommen kann, auch wenn sie selbst ihn nicht zu heilen vermögen.

Das sind die Zeichen in der Geschichte, die nonverbalen, jenseits aller Worte. Jesus vermag in den Gesten zu lesen und sie zum Sprechen zu bringen, er deutet ihr Tun: „Als er ihren Glauben sah…“, heißt es. Jemandem auf’s Dach steigen! Was für andere Aufdringlichkeit, Unverschämtheit, Hausfriedensbruch wäre, das ist für Jesus Glauben. Keine Bekenntnisse, keine Formeln, kein Lehrsatz –  sondern Glauben ist, wie  vier Leute solidarisch, entschlossen und kreativ sind.

„Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Kind, deine Sünden sind dir vergeben.“ Das sind die ersten Worte, die in dieser Geschichte fallen, und zwar nach über vier längeren Bibelversen, fast in der Hälfte des Textes. Diese Worte brechen das Schweigen. Es sind die erlösenden Worte: Mein Kind, oder: Mein Sohn.
Vielleicht ist das das Bindeglied in unserer Geschichte zwischen der Lähmung und der Heilung. Wenn es Jesus zuerst sagte, wird es genau das gewesen sein, was der Gelähmte brauchte und wonach er sich gesehnt hat. Mein Kind.
Jesus spricht den Gelähmten als Sohn, als Kind an. Er geht mit ihm auf die Suche nach dem verlorenen Kind im Mann und schlüpft damit selbst in die Vaterrolle. Jesus selbst wird zum Vater, oder zu Vater und Mutter, sein Gegenüber zum Kind; so, als könnte das Leben noch einmal beginnen.

Er kann ein neues Vater-Sohn-Verhältnis erleben. In der patriarchalischen Gesellschaft wird dieses Verhältnis autoritär geprägt gewesen sein, bestimmt von engen Vorgaben, von Unterordnung und Bestrafung.  An Jesus erlebt er nun, dass Vater sein und Sohn sein auch etwas anderes bedeuten kann. Dieser Jesus-Vater nimmt ihn so an, wie er ist. In Jesus begegnet ihm der liebende und annehmende Vater, der unterstützt, beschirmt und aufrichtet. Und er, er darf sein, ohne Vorbehalte. Er darf sich selbst annehmen. Er muss sich nicht selbst einengen oder Eingeständnisse leisten. Es ist von keiner Vergebungsbitte die Rede, mit der er sich klein machen muss. Mein Kind, deine Sünden sind dir vergeben – das heißt: Du bist richtig. Du  kannst die Zwänge vergessen. Du darfst deine Rolle, auch deine Männerrolle neu finden. „Steh auf, nimm dein Bett und geh.“

Jesus spricht das erlösende Wort. Er bringt das Unausgesprochene auf den Tisch. Das heißt, er nimmt es ernst und eröffnet die Möglichkeit, darüber ins Gespräch zu kommen. Er redet über die Zwänge, was man  darf, was man nicht darf, und setzt seine Freiheit dagegen. So kann die Erstarrung abfallen. Vielleicht ist es das, was der Gelähmte gebraucht hat; vielleicht brauchen wir etwas anderes.

Was ist eigentlich das Gegenteil von gelähmt? Gelassen, beweglich, bewegt, locker, weit, frei. Du lass dich nicht verhärten, hat Wolf Biermann gesungen. Das bedeutet, auch den Schmerz an sich heranzulassen und ihn nicht abzublocken, denn erst so verspannen wir uns. Es ist das Gegenteil der Kopf-hoch-und-durch-Mentalität. Jesus hat dem Gelähmten dazu verholfen, dass er das Leben in seiner Fülle wahrnehmen und gestalten kann.

Die Geschichte ist eine Ostergeschichte. Aufstehen, auferstehen, das ist dasselbe Wort wie in den Ostergeschichten. Es wird immer wieder Dinge im Leben geben, die uns lähmen und einengen.  Ich wünsche uns, dass wir zu wandelnden Beispielen solcher Ostergeschichten werden: dass sich lösen kann, was uns blockiert, dass wir, getragen von den Menschen und Gott, getragen zu Gott, immer wieder frei werden und neu anfangen können. Mit dieser Freiheit mögen wir andere anstecken, jedes Jahr, jeden Tag unseres Lebens, bis wir am Ende er-löst werden. Amen.

Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis über Markus 2,1-12
Andere Predigten am 19. Sonntag nach Trinitatis: Hiskia- ein Politiker zeigt Schwäche und Segen und Verantwortung über Generationen (2. Mose 32,4-10)

Weitere Andachten und Predigten in der Trinitatiszeit: hier
Predigten im Jahreslauf: hier

Diese Predigt ist eine aktualisierte Version der Predigt von 2004, die mit dem Ökumenischen Predigtpreis (Beste Predigt 2004) ausgezeichnet wurde.

 

Markus 2,1-12 1Und nach etlichen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. 2Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. 3Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. 4Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. 5Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. 6Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: 7Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? 8Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? 9Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? 10Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: 11Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! 12Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.

 

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