Lydia läßt sich taufen und leitet die erste Gemeinde in Europa

Seht ihr die Frau mit den roten Händen? Das ist Lydia. Lydia aus Lydien, aus Thyatira, einer Stadt in der Türkei. Dort stammt sie her. Lydia, die Lydierin. Früher war sie wahrscheinlich eine Sklavin. Aber irgendwie war sie freigekommen, so wie die anderen Frauen mit ihr. Gemeinsam hatten sie sich aus Thyatira über das Mittelmehr durchgeschlagen bis nach Europa, in die Stadt Philippi in Griechenland.

Taufdeckel

In Philippi rauschte das Leben. Römische Tempel, römische Straßen, römische Eleganz, wohin das Auge fiel. Kaufleute aus aller Welt boten ihre Waren feil. Auch die Mode orientierte sich an Rom. Gerade war die Farbe Rot angesagt. Rot war der letzte Schrei. Besser gesagt: Purpur. Die Purpur-Farbe war dem Kaiser vorbehalten, denn sie war unsagbar teuer. Gerade deshalb wollten alle Purpur zeigen, und wenn es nur eine Stola war oder ein paar Fransen. Selbst wenn sie es sich eigentlich nicht leisten konnten. Und deshalb hatte Lydia rote Hände. Sie handelte nicht nur mit Purpurkleidern. Sie stellte die Purpurfarbe auch selbst her und färbte die Gewänder. Davon wurde die Haut rot und rissig. So elegant die Kleidung war – ihre Herstellung war es nicht. Purpurschnecken mussten in Urin ausgekocht werden. Die Stoffe wurden in der Lösung eingeweicht und geschwenkt. Es stank. Purpurfärben war eine schmutzige Arbeit, für die sich kein freier Mann hergab.
Die Purpurarbeiterinnen waren oft freigelassene Sklavinnen. Die Schönen und Reichen sahen über die schmutzige, schlechtbezahlte Arbeit hinweg, mit der ihre Kleidung entstand, genauso wie heute. Was kümmerten sie schon Leute wie Lydia, die dafür sorgten, dass sie in schicken Prunkgewändern zwischen den marmornen Säulen Philippis daherstolzieren konnten?

Lydia und ihre Frauen lebten zusammen in Lydias Haus. Sie arbeiteten zusammen, von morgens bis spätabends. Immer in der stinkenden Brühe. Sechs Tage in der Woche. Nur sonnabends nicht. Sonnabends gingen sie zur Synagoge am Fluss. Der Sonnabend oder Sabbat ist der jüdische Feiertag, und der jüdische Glauben sprach Lydia am meisten an von allen Religionen, die sie in Philippi kennengelernt hatte. Ein Gott, der auch die Armen ansieht und die Leute, die hart arbeiten oder fremd sind. So traf sich Lydia jeden Sabbat in der Synagoge am Fluss mit anderen Frauen. Sie betete mit ihnen und feierte Gottesdienst, auch wenn sie keine Jüdinnen waren.

Als sich eines Sabbats Gäste von weither einfanden, kam Lydia gleich mit ihnen ins Gespräch. Paulus und Silas, so hießen sie, waren ebenfalls jüdisch. Sie erzählten von Gott und von Jesus. Der hat auch nach Gerechtigkeit gefragt. Und hat sich freiwillig wie ein Sklave behandeln lassen, damit kein Mensch mehr unfrei sein muss. Lydia ging das Herz auf. Gott sorgt für Gerechtigkeit, die für alle gilt. An diesem Sabbat ließ Lydia sich sofort taufen, zusammen mit allen aus ihrem Haus. Sie stiegen hinab in den Fluss. Paulus und Silas tauchten sie im Wasser unter und tauften sie auf den Namen Jesus.
Lydia wurde ganz feierlich zumute, als Paulus ihnen versprach: Ihr alle seid Gottes Kinder in Christus Jesus durch den Glauben. Denn alle, die ihr in Christus hinein getauft seid, habt Christus angezogen wie ein Kleid. Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, da ist nicht männlich und weiblich, denn ihr seid alle eins in Christus Jesus. (Galater 3,26-28)
Lydia blickte auf ihre roten, rissigen Hände und murmelte: „Das habe ich mir schon immer gewünscht: keine Unterschiede, keine Rangstufen. Es spielt keine Rolle, woher jemand kommt, ob jemand männlich oder weiblich ist, versklavt oder frei. Es spielt keine Rolle mehr. In den Marmortempeln von Philippi haben Frauen oder Sklaven nichts zu sagen. Aber in der Gemeinde von Jesus kann es anders sein. Da gibt es keinen Katzentisch. Und mein Haus wird die erste Gemeinde in Philippi sein. Kommt mit!“

Lydia lud und drängelte so lange, bis sich Paulus und Silas endlich auf den Weg in ihr Haus machten. Da saßen sie dann alle, die Purpurarbeiterinnen mit den roten Händen, die Gäste von außerhalb, Frauen aus der Stadt, und diskutierten über Jesus. Es wurde die Geburtsstunde der ersten christlichen Gemeinde in Europa.

Lydia ist die erste Christin in Europa. Sie gründete und leitete die Gemeinde in ihrem Haus. Sie nahm Verfolgte auf und beschützte sie. Auch Paulus und Silas schlüpften später bei ihr unter, als sie aus dem Gefängnis kamen. Lydias Gemeinde in Philippi wurde seine Lieblingsgemeinde. Sie unterstützte ihn tatkräftig mit Gebeten und Geld, noch Jahre nach diesem Sabbat, an dem sie bei Lydia zu Gast waren.

Die roten Hände erinnern daran, wie das Christentum nach Europa kam:  mit einer ehemaligen Sklavin, die sich mit ihrer Hände Arbeit durchschlug, in einer Männergesellschaft einem Haus vorstand und eine Gemeinde leitete. Und das fing mit der Taufe an einem Sabbat in Philippi an.

 

Kurzpredigt
Die antike Gesellschaft hat viele benachteiligt und ausgeschlossen. Nur freigeborenen, wohlhabenden Männern mit Bürgerrechten stand die Welt offen. Die Chancen für alle anderen waren sehr begrenzt. Auf der untersten Stufe standen Versklavte und Fremde. Frauen hatten nichts zu sagen. Genau diese Diskriminierungen sind auch in dem Taufbekenntnis benannt: Ausgrenzung durch Herkunft und Religion (jüdisch und christlich). Ausgrenzung durch Unfreiheit und Armut (versklavt und frei), Ausgrenzung durch Geschlecht (männlich und weiblich).
Aber in den ersten Gemeinden ging es anders zu. Die Rangstufen spielten keine Rolle mehr. Sie probierten aus, wie das geht: gleichberechtigt miteinander leben. Das zog viele an, besonders solche, die wenig zählten. Wir wissen, daß in den ersten Gemeinden Frauen und Versklavte bzw. ehemalige Versklavte stark vertreten waren. Hier gehörten alle dazu und nahmen einander ernst. Auf diese Weise wurden Gemeinden zu Vorreitern einer neuen Gesellschaft. Sie lebten Demokratie für alle (und nicht nur für begüterte, freigeborene Männer).
In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich Kirche selbst zum Herrschaftsinstrument; Menschen wurden zur Taufe gezwungen. Tauferinnerung bietet eine gute Gelegenheit, daß wir uns an die Ursprünge erinnern – und weiterdenken: Wo werden heute Menschen benachteiligt und ausgeschlossen? Und wie könnten wir zu Vorreitern einer neuen Welt werden, an der alle mitgestalten und teilhaben?

Erzählung und Kurzpredigt zur Tauferinnerung
zu anderen Predigten zur Taufe und Konfirmation
zu Predigten im Jahreslauf

Lydia wird in Apostelgeschichte 16,12-15.40 erwähnt. Galater 3, 26-28 gilt als das früheste Taufbekenntnis.

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