Sicher nicht – oder? Friedensdekade 2023

Menschen brauchen Sicherheit, von Anfang an. Ein Baby ist darauf angewiesen, daß sich jemand kümmert, wenn es schreit, daß es gestillt und gewickelt, getröstet und geknuddelt wird. Wenn ein Kind geborgen aufwächst, kann es damit klarkommen, wenn etwas anders ist oder wenn etwas fehlt. Es wird nach und nach lernen, mit Ungewohntem umzugehen, wird Frustrationen überwinden und lernen, sich auf neue Situationen einzustellen. Menschen brauchen Sicherheit, auch als Erwachsene. Zu essen und ein Dach über dem Kopf haben sind Grundbedürfnisse, aber auch wahrgenommen und geachtet werden, mit anderen Menschen verbunden sein, Ziele haben, ein sinnvolles Leben führen und keiner Gewalt ausgesetzt sein. Wie wichtig das alles ist, merken wir oft erst, wenn etwas davon fehlt. Mit den Sicherheiten in der Gesellschaft ist es ähnlich.
Im Nachhinein erscheinen vielen die Jahre vor Corona als eine friedliche, sichere Zeit. Vieles, was selbstverständlich war, scheint nun zerbrochen oder in Frage gestellt. Aber war es tatsächlich so viel besser? Oder sind nur durch Corona und Krieg die Probleme ans Licht gekommen, für die wir schon länger nach Lösungen hätten suchen sollen? Zum Beispiel bei der Bildungspolitik, der Umstellung auf erneuerbare Energien oder bei der weltweiten Gerechtigkeit? Da hätten wir schon viel eher handeln können.

Sicher – nicht? Das hört sich in Sangerhausen anders an als in Afghanistan oder in einer Favela am Rand von Rio de Janeiro. Was würden uns Menschen in anderen Ländern antworten? Vielleicht würden sie davon erzählen, wie sie sich das Geld für Medizin zusammensparen. Oder wie  Frauen sich auch tagsüber nicht mehr trauen, aus dem Haus zu gehen, weil die Wege zu unsicher sind. Und wie glücklich wir uns schätzen können, daß wir in so einem reichen und sicheren Land wohnen. Die allermeisten Menschen, die je auf dieser Welt gelebt haben, waren Armut, Rechtlosigkeit und Gewalt ausgesetzt. In gesicherten Verhältnissen leben und sich entfalten können – das konnten nur die wenigsten.

Die Bibel träumt von einer gerechten Welt für alle. Die Propheten im Ersten Testament warnen, daß sich die Reichen in falscher Sicherheit wiegen. Sicherheit und Frieden gibt es nur für alle, wenn auch die Benachteiligten davon profitieren. Sonst kommen Konflikte nicht zur Ruhe, im Land und weltweit. Die Völker des Globalen Südens, die übersehen wurden, wünschen sich, daß sie in den Blick kommen und beteiligt werden. Sie wollen endlich mitreden können und fordern ein, daß ihre Interessen und Rechte beachtet werden.

Safe Spaces – sichere Räume – davon wird in den letzten Jahren immer öfter gesprochen. Gerade Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft immer wieder angepöbelt werden, Gewalt und Ausgrenzung ausgesetzt sind, brauchen solche Safe Spaces besonders. Sind unsere Dörfer und Straßen, unsere Schulen und Kirchen sichere Orte? Drei Viertel der Schwarzen Menschen in Deutschland haben in den letzten Jahren rassistische Diskriminierung erfahren. Das brachte erst kürzlich eine Studie zutage. Europaweit sind Deutschland und Österreich das Schlusslicht. Der Schnitt liegt bei 45 Prozent, in Deutschland sind es 76.
In diesen Wochen denke ich besonders an jüdische Kinder und Erwachsene. Immer weniger trauen sich mit Kippa oder Davidsstern vor die Tür: Manche wollen sogar nicht einmal Post von der jüdischen Gemeinde bekommen. Haustüren werden beschmiert, auf Stolpersteine gespuckt. Auf dem Schulhof gehört „du Jude“, „du Opfer“ zum Repertoire der Schimpfworte. Seit Jahren steigt die Zahl der antisemitischen Sticheleien, Beleidigungen und Straftaten, auch bei uns in Sachsen-Anhalt. Es sollte uns eine Herzensangelegenheit als christlichen und deutschen Menschen sein, dafür so sorgen, daß jüdische Menschen bei uns sicher leben können. Und solange das nicht so ist, müssen wir uns nach den Gründen fragen.

Manchmal tut zuviel Sicherheit aber nicht gut, nämlich für unsere innere Entwicklung. Damit wir als Menschen wachsen und reifen können, müssen wir uns immer wieder verunsichern lassen. Sonst treten auf der Stelle oder verknöchern sogar. Viele alte Sichtweisen sind tatsächlich sehr eng und es wird Zeit, sie zu hinterfragen. Auch unsere Gesellschaft wandelt sich ja ständig. Die Rechtsstellung von Frauen oder von Arbeiterinnen und Arbeitern ist nicht mehr wie vor 200 Jahren. Wir denken heute auch anders als damals über die Teilhabe von behinderten oder alten Menschen oder über das Recht von Kindern auf eine gewaltlose Erziehung und über das Verhältnis von uns Menschen zu Umwelt und Tieren.

Leben bedeutet sich verändern. Wir werden immer wieder mit Situationen konfrontiert, die wir nicht vorhergesehen haben. Nur im eingefahrenen Trott weitermachen führt nicht vorwärts und löst keine Probleme. Wer sich verunsichern läßt, entwickelt sich weiter und verändert sich. Das ist herausfordernd. Aber Gott hat uns Menschen mit Klugheit, Weitsicht und Urteilsvermögen ausgestattet. Sicher nicht – oder? Darüber werden wir in der Friedensdekade nachdenken, über sichere Orte, über alte Sicherheiten und Privilegien, die wir hinterfragen und aufgeben müssen. Und wir werden darüber nachdenken, wie es gelingt, daß alle in Sicherheit und Würde leben können.

Predigt zum Motto der Friedensdekade 2023 „sicher nicht – oder?“
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