Halleluja und Amen: Vereinnahmung und Abwertung von jüdischem Glaubensgut durch christliche Tradition

In unseren Kirchen finden wir jüdische Symbolik. Das Tetragramm, die hebräischen Buchstaben יהוה für den Gottesnamen, war beliebt in Altären der Barockzeit. An der Kanzel sind jüdische Propheten dargestellt. In Gesangbuchliedern taucht der Gottesname auf („Dir, dir, Jehova, will ich singen“, im EG 328 schon ersetzt durch „du Höchster“). Amen, Halleluja, Messias – das sind Worte aus dem Hebräischen. Wie kommt es, daß unsere christlichen Tradition gleichzeitig über Jahrhunderte Antisemitismus befördert hat?
Ich glaube, es ist zweierlei passiert: Die Kirchen haben sich den jüdischen Glauben sowohl angeeignet und ihn gleichzeitig abgewertet. Die Lieder im Gesangbuch sind ein Beispiel für die Aneignung. In einigen kommt „Israel“ vor oder auch „Zion“, der Berg in Jerusalem, als Symbol für das ganze Volk Israel. Wir finden durchaus Spuren für unsere jüdischen Wurzeln. Sie werden also nicht verleugnet oder gar gestrichen, so wie später im Nationalsozialismus das Gesangbuch bereinigt werden sollte.
Aber: Israel meint nicht mehr das jüdische Volk. Sondern Israel, das ist jetzt die Kirche. Besonders deutlich ist das im Lied „Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit“ (EG 502). Da heißt es weiter: Lob Gott mit Schalle, werteste Christenheit! Er läßt dich freundlich zu sich laden; freue dich, Israel, seiner Gnaden. Die Kirche setzt sich symbolisch an die Stelle Israels. Die Verheißungen Gottes an das jüdische Volk, sie gelten plötzlich dem Christentum, dem „neuen Israel“, während reale Jüdinnen und Juden selbstverständlich in der Kirche nichts zu suchen hatten, es sei denn, sie wurden getauft. Mit „Abrahams Samen“ (Lobe den Herren 317,5) besingt die christliche Gemeinde vor allem sich selbst und nicht mehr die Nachkommen von Abraham und Sara.

Diese Vereinnahmung ist auch mit der Bibel passiert. Unsere Bibel besteht ja aus zwei Teilen. Die hebräische Bibel nimmt den ersten, größeren Teil ein. Der zweite Teil, das Neue Testament, ist auf Griechisch verfaßt und berichtet von Jesus und den ersten Gemeinden. Die christliche Auslegung hat die hebräische Bibel ausschließlich wahrgenommen als Hinführung zu Jesus, als Vorbereitung für das Evangelium. Sie hatte nicht im Blick, daß es die heilige Schrift des Judentums ist, und auch nicht, wie jüdische Gelehrte, Männer und Frauen, die hebräische Bibel auslegen und diskutieren. Es gibt eine reiche innerjüdische Auslegungstradition. Aber selbst in meiner Studienzeit spielte die keine Rolle.
Besonders die Prophetenbücher wurden so interpretiert, dass sie schon Jahrhunderte vor Jesu Geburt von Jesus erzählen und auf ihn hinweisen. Beim Propheten Jesaja zum Beispiel wird ein Sklave beschrieben, der geschlagen wird, unansehnlich ist und unschuldig leiden muß. Im Christentum wird er als Gottesknecht bezeichnet, in dem sich schon der leidende Jesus verbirgt.

So wurde einerseits enteignet. Und gleichzeitig abgewertet: Der Gott des Alten Testaments erscheint ein anderer als der von Jesus. Gott wurde aufgespalten, in einen „alttestamentarischen“ zornigen und in einen freundlichen der Evangelien. Der Gott des Alten Testaments ist unerbittlich und fordert grausame Opfer, in Jesus aber erscheint die Barmherzigkeit und Liebe Gottes. Jüdischer Glauben ist gesetzlich und kleinlich, unzählige Gebote müssen genau befolgt werden, während Christus die Freiheit bringt. Was positiv und wegweisend ist, wurde dem christlichen Glauben zugeschlagen, die Zehn Gebote etwa oder die Nächstenliebe. Was nicht hineinpaßte oder negativ erschien, wurde dem Judentum angelastet. Hier Gesetz, dort Evangelium, wie Martin Luther sagte. Hier der kleinliche Pharisäer, dort der barmherzige Samariter als Inbegriff für christliches Handeln. Hier Judas, der Jesus verriet, dort Petrus als Fels der Kirche. Daß Petrus dreimal verleugnete und verfluchte, fiel unter den Tisch, genauso daß in den Psalmen viel von Barmherzigkeit, Weisheit und Güte gesprochen wird oder daß die hebräische Bibel Gott immer wieder als barmherzig und den Menschen zugewandt schildert.

Auf diese Weise wurde die jüdische Glaubens- und Frömmigkeitstradition vereinnahmt, in die christliche Verkündigung inkorporiert und zugleich hintenangestellt und abgewertet.
Das spiegelt sich schon bei der Bezeichnung der beiden Teile der Bibel wieder: Altes Testament und Neues Testament. Alt ist etwas, was früher war, was vergangen ist und mittlerweile überholt von dem Neuen. Das Neue ist Fortsetzung und Krönung, das eigentlich Wichtige. Das Neue Testament ist das Ziel, vervollständigt oder ersetzt sogar das Alte.

Wie gehen wir mit jahrhundertealten Traditionen um, die Vorurteile, Ausgrenzung und Antisemitismus gesät haben?

Zum ersten: Wir können die Bibel neu lesen und entdecken, was die Generationen vor uns übersehen haben: Jesus war gläubiger Jude. Er hat jüdische Bräuche befolgt und betont, daß kein Jota vom Gesetz, von der Tora weggenommen werden soll. Und auch die ersten Gemeinden wurzelten fest in der jüdischen Frömmigkeit. Sie gingen zum Tempel, hielten Sabbat und die Speisegebote. Unsere Landeskirche verzichtet bewusst auf Mission unter Jüdinnen und Juden, nicht nur aus Scham über die Mitschuld an der Schoah, sondern auch weil sie bekräftigt, daß Gott mit Abraham und Sara das jüdische Volk bleibend ausgewählt hat.
Wenn wir von den beiden Teilen der Bibel sprechen, können wir statt Altes Testament sagen: Erstes Testament und Zweites Testament. Damit sind beide gleichgestellt, und gleichzeitig wird klar: mit dem Ersten Testament fängt es an. Das Erste ist wichtig und steht eben an erster Stelle.

Zum zweiten: Wir können unseren Blick dafür schulen, wo sich Antisemitismus in modernem Gewand fortpflanzt, etwa im Gerede von einer zionistischen Weltverschwörung oder wenn auf der Documenta 15 jüdische Soldaten mit Schweinsköpfen karikiert wurden, um den Kapitalismus zu kritisieren.

Und nicht zuletzt können wir immer wieder darüber nachdenken, wie wir von unserem Glauben reden, ohne daß andere abgewertet werden – nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern z.B. auch „Heiden“. Wir können einander einladen, aufeinander hören und voneinander lernen.

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