Anna selbdritt und die Großmütter (Hospiz-Einweihung)

Ich habe Ihnen ein Bild mitgebracht: Großmutter, Mutter und Kind. Großmutter Anna hält Maria mit dem Jesus-Kind in der Hand. Anna selbdritt wird so eine Darstellung in der Kunstgeschichte genannt. Es ist das Logo der Annenkirche in Annaberg-Buchholz. Die Annenkirche in Annaberg-Buchholz, erbaut in der Zeit des Silberbergbaus, ist die größte und prächtigste Kirche des Erzgebirges, Vorbild und große Schwester für viele Annenkirchen und -kapellen im Bergbaugebiet des Erzgebirges und ganz Mitteldeutschlands. Auch die Eislebener Annenkirche ist in dieser Zeit entstanden. Nach Anna soll das Hospiz benannt werden. Wer war sie? In der Bibel ist sie unbekannt. Die Bibel erzählt uns zwar von Maria und ihrem Kind Jesus, von der Geburt in Betlehem und der Flucht nach Ägypten. Doch schon über Maria erfahren wir nicht viel. Als Dienerin, als Sklavin bezeichnet sie sich selbst, spricht von Erniedrigung (Lukas 1,48). Ob sie mit Josef zusammen war? Jedenfalls war Marias Kind nicht von ihm. Anna jedoch taucht nirgendwo in der Bibel auf. Die Legende hat sie ersonnen, Jahrhunderte später, und ihre Geschichte weitergesponnen. Sie ist für viele Menschen im Mittelalter wichtig geworden. Maria mit dem Kind sitzt im Schoß ihrer Mutter Anna. Der Legende nach soll Maria noch sehr jung gewesen sein, als sie schwanger wurde – eine Teenagerschwangerschaft. Auf vielen Tafelgemälden erscheint Maria selbst noch wie ein kleines Mädchen auf dem großen Schoß ihrer Mutter.

Großmütter sind wichtig. Die Anthropologie schreibt ihnen sogar eine entscheidende Rolle bei der – besser zur Menschheitsentwicklung zu: die Großmutterhypothese. Die älteren Frauen jenseits des Klimakteriums haben ihre Töchter unterstützt, die Enkel großzuziehen. Die Töchter waren immer wieder schwanger und mussten gleichzeitig kleine Kinder stillen. Die Großmütter haben sie entlastet. So stieg die Überlebenswahrscheinlichkeit der Enkel. Gleichzeitig haben sie die Kinder angeleitet und gelehrt. Sie haben ihnen ihre Fertigkeiten und Erfahrungen weitergegeben. Sie sorgten für Wissenstransfer und die Weitergabe von Erfahrungen und kulturellen Techniken. So begann die Kulturgeschichte.

Großmütter sind wichtig, auch heute. Alle Eltern sind irgendwann einmal überfordert. Eine Großmutter kann manches ausgleichen. Junge Mütter sind dankbar für Atempausen, in denen sie sich erholen können, wenn sie erschöpft sind. Sie sind oft selbst noch jung und voller Hunger nach Leben, sind innerlich gleichzeitig auch noch Kind, so ähnlich wie Maria der Legende nach. Großmutter Anna nimmt beide auf den Schoß. Sie füttert beide, päppelt sie auf, lässt beide noch einmal Kind sein.

In der Bibel vergleicht Gott sich selbst mit so einer Mutter oder Großmutter: Ihr werdet wie Säuglinge trinken, auf der Hüfte werdet ihr getragen und auf den Knien werdet ihr geschaukelt. Ich will euch trösten, wie eine Mutter tröstet. (Jesaja 66,12-13, Züricher / Luther) Ein bisschen so wie Gott stelle ich mir Anna vor. Ich denke an die vielen Witwen und Großmütter in der Nachkriegszeit und in der DDR, die für Töchter und Enkel da waren, auch wenn sie selbst wenig zu beißen hatten. Welche inneren Lasten trugen sie, ohne dass sie je darüber gesprochen hätten: die Schrecken von Krieg, Flucht und Vergewaltigung. Je älter ich werde, desto mehr berührt mich ihre Lebensleistung und wie es vielen gelungen ist, alt zu werden, ohne bitter zu werden. Sie haben die jungen Leute unterstützt, so gut es ging. Haben Socken gestopft, alte Pullover aufgetrudelt und neu gestrickt, Pakete mit Selbstgebackenem zur Post geschleppt und sich unauffällig zurückgenommen, wenn sie nicht gebraucht wurden. Anna ist da für Maria und ihr kleines Kind. Sie ist ein Symbol dafür, wie die Jüngeren die Älteren brauchen und von ihrer Weisheit, ihrem Schutz und ihre Fürsorge leben. Anna selbdritt ist ein Sinnbild für Geborgenheit.

Geborgenheit brauchen wir alle immer wieder im Laufe der Jahre, am Anfang unseres Lebens und auch am seinem Ende. So soll es im Annenhospiz sein. Menschen sollen behütet sterben können. Sie sollen die letzten Wochen und Tage verbringen, ohne dass sie Schmerzen haben. Sie sollen ruhig werden können, sich von lieben Menschen verabschieden, letzte Dinge regeln, manchmal in Ordnung bringen, was irgendwann einmal im Leben zerbrochen ist. Und auch für die Angehörigen soll das Hospiz ein guter Ort sein, dass sie einander langsam und in Ruhe loslassen können.

Unsere Rollen verändern sich immer wieder im Lauf unseres Lebens. Großmutter Anna ist es jetzt, die Fürsorge braucht. Sie, die immer Hilfe gegeben hat, muss jetzt selbst umsorgt, genährt und behütet werden. Jüngere, die einst von Anna gelernt haben, sind stark geworden, müssen die Gebrechliche stützen und sie mit sanften Händen betten.

Auch in der Gesellschaft verändern sich die Rollen. Drei Generationen unter einem Dach, Großmutter, Mutter und Kind – die Welt der heilen Familien gibt es nicht mehr; und ich weiß auch nicht, ob es sie je gegeben hat. Das Bild von Anna selbdritt scheint mir eher ein Bild der Sehnsucht danach zu sein. Jedenfalls: die Rollen wandeln sich noch einmal. Hier im Hospiz sind es nicht mehr nur die leiblichen Kinder, Enkel, Verwandten, die füreinander bis zum Tod einstehen. Andere treten neben sie oder an ihre Stelle. Pfleger:innen, hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeitende. Sie halten die Hände. Sie waschen den Schweiß ab, feuchten den Mund an, schließen die Augen. Anna und ihre Schwestern sollen in Frieden sterben, egal ob sie christlich oder nichtchristlich sind, in ein paar Jahren vielleicht auch jüdisch oder muslimisch. Dafür möge dieses Haus zu einem guten Ort werden.

Predigt zur Einweihung des Annen-Hospizes in Eisleben

Andere Predigten zur Diakonie
Predigt über Mechthild von Magdeburg und das Älterwerden
Predigten zum Totensonntag

Gebet

Gott, wir beten für das Hospiz und für alle Menschen, die hier leben und arbeiten.
1 Wir denken an die Menschen, die in dieses Haus als Gäste kommen, dass ihre letzten Wochen und Tage zu einer guten und erfüllten Zeit werden und sie in Frieden sterben können.
2 Wir denken an alle, die einen lieben Menschen loslassen müssen und um die Toten weinen, dass sie Trost, Beratung und Ermutigung finden.
3 Wir denken an alle, die in dem Hospiz arbeiten, in der Pflege und der medizinischen Betreuung, in der Hauswirtschaft und in der Verwaltung.
1 Wir denken an die Ehrenamtlichen, die Sterbende besuchen, Angehörige entlasten, für Hinterbliebene da sind.
2 Wir denken an Menschen, die verzweifelt sind und keinen Ausweg mehr sehen, an Menschen, die unerträgliche Schmerzen leiden, an alle, die allein und einsam sterben.
3 Wir denken an uns selbst, dass wir lernen, das Leben zu lieben und den Tod nicht zu fürchten, dass wir unsere Tage mit Sinn füllen und Verantwortung übernehmen für diese Erde und für die kommenden Generationen.
Segne das Haus und alle, die hier leben und arbeiten.

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