Sorgen 2022: Was werden wir morgen essen?

Was werden wir morgen essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden – so wie in der Bibel fragen sich in diesem Herbst viele Menschen. (Matth. 6,25-34**) Wird es reichen bis zur nächsten Rente? Muss ich mich entscheiden zwischen dem Essen in der Mensa oder einer Jacke für den Winter? Studierende, Rentner:innen, Alleinerziehende, Leute mit prekären Jobs – sie alle müssen noch mehr rechnen als sonst. Und sie sind auch mehr in den Blickpunkt gerückt, jetzt, wo selbst Leute mit Mittelklassewagen auf ihre Gasrechnung blicken und den Bleistift spitzen. Und damit sind auch die Menschen in der Bibel näher gerückt, mit denen Jesus lebte und an die er sich wendet. Über 90 % der Bevölkerung in den Provinzen des römischen Reiches lebte an- und unterhalb der Armutsgrenze, hat die Wissenschaft herausgefunden. Das heißt, 90 % der Menschen wurden nicht wirklich satt und hatten zeitweise oder ständig Hunger. Wie es zur Zeit von Jesus in vielen Hütten aussah, erahne ich aus der Geschichte vom nächtlichen Besuch, die Jesus einmal erzählt hat: „Wer von euch hätte einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und sagte zu ihm: Freund, leihe mir drei Brote! Denn mein Freund ist auf der Reise zu mir gekommen und ich habe nichts, was ich ihm geben kann!“ (Lukas 11,5-6) Er hat also wirklich nichts zu essen im Haus, nicht einmal ein Krümelchen Brot. Und auch jener Freund, zu dem er geht, hat nichts zu verschenken, sondern braucht das, was er hat, für sich und seine Familie. Für ihn ist es schon ein großes Opfer, Brot auch nur zu verborgen. Soviel Elend kenne ich heute nur aus den Erzählungen der Nachkriegszeit oder aus den Ländern des Globalen Südens. Die UNO spricht von über 820 Millionen, fast 10 % der Weltbevölkerung, die hungern. *

Mir fallen in dem Abschnitt der Bergpredigt drei Punkte auf:
Zunächst setzt sich Jesus kritisch mit dem Reichtum auseinander: Häuft keine Schätze an! (Matth. 6, 19-24) Jesus spricht von Reichtum und Armut in einem Abschnitt, in einem Zusammenhang. Reichtum muss schließlich irgendwo herkommen. Die Zinsen der einen sind die Schulden der anderen. Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie fordern schon lange, nicht nur Armut in den Blick zu nehmen, sondern auch den Reichtum. Der ist, sagen sie, gut verborgen und versteckt. Über Reichtum, fordern sie, wissen wir viel zu wenig. Genauso oder mehr noch wie Armutsberichte brauchen wir einen Reichtumsbericht in unserem Land. Wie ist der Reichtum verteilt, wie kommt er zustande, wer profitiert davon? Die einen sammeln Schätze und Aktien, die anderen fragen sich: Was werden wir morgen essen. Davon profitieren auch wir in Europa. Die niedrigen Löhne in den Bananenplantagen oder Textilfabriken des Südens ermöglichen unseren Lebensstandard im Norden.

Zum zweiten fällt mir auf, dass Jesus die Sorge der Menschen um ihr tägliches Brot in Verbindung mit der Natur bringt. Schaut auf die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Feld, selbst auf das Gras. Gott ernährt sie alle. Anders als damals ist für uns heute nicht mehr selbstverständlich, dass die Vögel überleben und die Pflanzen. Der Lebensraum vieler Arten schwindet, umso mehr, wenn sie entbehrlich scheinen oder als schädlich gelten. Hamster und Insekten etwa. Auch wenn wir inzwischen wissen, wie wichtig alle Organismen für das Gleichgewicht der Natur sind, wird weiter zubetoniert und abgeholzt. Aber für Jesus gehören auch die unscheinbaren und vernachlässigbaren dazu. Gott sorgt auch für das Gras, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, davon ist Jesus überzeugt (Matth 6,30). Er nennt beides in einem Atemzug – Natur und Menschen. Er spielt es nicht gegeneinander aus. Finanzen aufbringen für die Erhaltung der Schöpfung und in Nachhaltigkeit investieren, das scheint vielen ein Luxus zu sein angesichts von Hunger und Kriegsfolgen. Aber für Jesus ist es kein Gegensatz, sondern gehört zusammen. Gott sorgt sich für Pflanzen und Tiere, und Gott sorgt sich für Menschen. Im Grunde wissen die meisten es auch: eine intakte Umwelt ernährt alle. Wenn wir auf dieser Erde überleben wollen, müssen wir die Schöpfung bewahren.

Zum dritten: Sucht zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Dass Menschen nicht wissen, wie sie über den nächsten Tag kommen, bringt Jesus mit der Frage nach Gerechtigkeit, nach dem System zusammen. Es geht um eine gerechte Welt. Setzt euch für Gottes neue Welt ein. Erst dann werdet ihr Hunger und Armut wirksam besiegen. Wenn ihr darum ringt, eine Welt nach Gottes Maßstäben zu gestalten, muss sich auch niemand mehr sorgen, was morgen auf den Teller kommt.
Wie klingt das in den Ohren von Menschen, denen der Magen knurrt? Ist das zynisch? Jesus hat gewagt, sie mit der langfristigen Lösung zu konfrontieren. Wie werden sie wohl reagiert haben? Und: wie reagieren wir heute?

 

* Jahresbericht der Welthungerhilfe für 2021 vom 7.7.2022  unric.org/de/070722-hunger

Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis über Mt 6,25-34
Andere Predigt über Mt 6,25-34: Lockerungen im Mai (2020)

 

** Mt 6, 25-34 25 Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? 27 Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? 28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. 29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. 30 Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? 31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? 32 Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. 33 Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. 34 Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

Hinterlasse einen Kommentar