Du siehst mich

(Jahreslosung 2023) Niemand hat sich jemals für Hagar interessiert. Hagar musste nur ständig zu Diensten sein. Sieben Tage in der Woche, von frühmorgens bis zum späten Abend. Und auch nachts. Dem Hausherrn. Mit Billigung der Hausherrin. Oder sogar auf deren Anregung hin. Hagar sollte schwanger werden, und dieser Sohn sollte den Stammbaum der Familie begründen. Die Hausherrin war schon zu alt dafür. Hagar musste ein Kind zur Welt bringen, aber es würde ihr nicht gehören. Was sie dazu dachte, ihre Schmerzen und Träume – danach fragte niemand. Sie war eine Sklavin, eine ausländische noch dazu. Die Geschichte des Gottesvolkes beginnt mit Abraham, Sara und einer ägyptischen Sklavin als Leihmutter.
Gleich dreifach war Hagar abgehängt und unfrei: als Frau, als Ausländerin, als Sklavin. So potenzierte sich ihre Erniedrigung und Entwürdigung. Wie stolz war sie, als sie tatsächlich schwanger wurde. Sie, die Sklavin aus Ägypten! Und wie schnell schwand der Glanz aus ihren Augen, als ihre Hausherrin Sara diesen einzigen Triumpf, den sie hatte, nicht auszuhalten vermochte und sie demütigte, wo sie nur konnte.
Hagar hielt es nicht mehr aus. Sie floh. In die Wüste. Dort hatte sie keine Überlebenschance. Weder ihr Leben noch ihr Tod würde Spuren hinterlassen.

So wie Hagar gibt es viele Menschen auf der Schattenseite des Lebens, die ausgepresst und abgehängt sind. Menschen, die keine Perspektive haben und sich unbeachtet fühlen. Wer fragt schon nach den zahllosen Frauen ohne Namen? Nach all den unsichtbaren Arbeitskräften und ihrem Los?

Doch Gottes Engel sucht in der Todeswüste nach Hagar und spricht mit ihr. Gott übersieht die vom Hausherrn geschwängerte Arbeitssklavin nicht. Und Hagar gibt Gott einen Namen: Du bist ein Gott, die* der mich sieht. Hagar ist die erste Person in der Bibel, die Gott einen Namen geben darf. Du siehst mich. Die Bibel kehrt damit die gängigen Verhältnisse um. Eine entlaufene Sklavin darf aussprechen, wer Gott ist: El-Roi (hebräisch), eine „Gottheit des Mich-Sehens“.

Die Jahreslosung für 2023 regt uns an, die Übersehenen ins Licht zu rücken. Sie sollen eine Stimme bekommen und eine Chance. „Zum ersten Mal prägt der Ausspruch einer Frau ein ganzes Jahr. Sie steht für all die ausgenutzten und nicht wertgeschätzten Frauen in Gesellschaft und Religion bis heute.“ (Wolfang Baur, Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen, ÖAB)

Jahreslosung 2023: Du bist ein Gott, die* der mich sieht. 1. Mose 16,13

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