Reformationstag: Rabbi Jesus

Ich habe ein Bild mitgebracht. Es zeigt einen jüdischen Rabbi oder Rabbiner, also einen jüdischen Gelehrten, Lehrer, Theologen, Ausleger der Schrift. Er trägt seinen Gebetsmantel, den Tallit, an dessen vier Enden sich die Zizit, Schaufäden oder Quasten, befinden. Den legt er morgens an, wenn er betet, und er trägt ihn, wenn er in der Synagoge aus der Tora vorliest und sie auslegt.
Einen Abschnitt aus der Tora haben wir eben gehört, und gerade dieser Abschnitt hat für den jüdischen Glauben eine besondere Bedeutung.

Foto: W.Cug

Als alttestamentliche Lesung zum Reformationstag ist er erst seit kurzem vorgesehen, seit die Predigttexte vor ein paar Jahren neu geordnet wurden. Er heißt „Sch’ema Jisrael“ (5. Mose 6,4-9)* und ist nämlich das wichtigste jüdische Gebet und zugleich das jüdische Glaubensbekenntnis.
Diese Worte hören jüdische Kinder von klein auf jeden Tag, wenn ihre Eltern morgens und abends beten und sich dabei ihre Augen zuhalten, damit nichts sie ablenken soll.
Höre Jisrael, der Ewige unser Gott, der Ewige ist Eins.  Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Vermögen.
Diese Worte drücken nicht nur den Kern des Glaubens aus, sondern sie beschreiben auch jüdische Lebenspraxis.
Jüdische Menschen sollen die Tora studieren. Die Worte sollen täglich rezitiert werden
sprich in ihnen, wenn du zu Hause sitzest und wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst.
Die Gebote sollen an die nächste Generation weitergegeben werden
Schärfe sie deinen Kindern ein
Die Gebetsriemen, die Tefillin, sollen angelegt werden.
Binde sie zum Zeichen an deine Hand, und sie seien als Denkband zwischen deinen Augen.
Die Mesusa , die Kapseln mit dem Schema  Israel, sollen an die Türgewände gehängt werden.
Schreibe sie an die Türpfosten deines Hauses und deiner Tore.
Das Schema Jisrael waren auch die letzten Worte vieler jüdischer Märtyrer.
Diese Worte hat auch Jesus zitiert, als er mit anderen Schriftkundigen fachsimpelte und diskutierte, was im Glauben am wichtigsten ist, was die wichtigsten Gebote sind: „Höre, Israel: Der Ewige ist dein Gott, der Ewige ist Einer. Und du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft.“ (Mk 12,29).

Wir feiern heute Reformationstag, ein Fest der Freiheit und Glaubensfreiheit, Doch sie galt gerade nicht für jüdische Menschen, im Gegenteil. Martin Luther hat an den Kurfürsten in Wittenberg appelliert, sie aus dem ganzen Land zu vertreiben. Seit 1532 durften sie nicht mehr in Kursachsen wohnen, mußten unsere Heimat verlassen. Je älter Luther wurde, desto schlimmer hat er öffentlich gehetzt und gefordert („Von den Jüden und ihren Lügen“): daß man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke, daß man auch ihre Häuser zerbreche und zerstöre, daß man ihnen alles Bargeld, Silber und Gold nehme. Laßt uns mit ihnen abrechnen. Darum immer weg mit ihnen. Die Nationalsozialisten haben in den 1930-er und 1940-er Jahren Martin Luthers Worte auf schreckliche Weise umgesetzt. Wenn seit kurzem am Reformationstag das wichtigste jüdische Gebet im Gottesdienst gelesen wird, soll deutlich werden: Evangelische Kirche will aus der Vergangenheit lernen. Sie will Brücken bauen und ernst nehmen, daß Kirche ohne ihre jüdischen Wurzeln nicht denkbar ist.

Das Bild, das ich Ihnen mitgebracht habe, heißt „Rabbi Jesus“.  Es zeigt genau diese Seite von Jesus. Rabbi, so wird Jesus im Neuen Testament angesprochen, von Freund*innen, von Fremden. Rabbi, das war er ja auch, ein Schriftgelehrter, Gottesgelehrter, Bibellehrer. Er bewegte sich ganz in der rabbinischen Tradition, wenn er mit anderen Schriftkundigen Bibelstellen deutet, verschiedene Auslegungsmöglichkeiten diskutiert und seine Interpretation dazusetzte. Er hat betont, daß kein Jota aus der Tora, aus dem Gesetz gestrichen weden soll.
Die Evangelien erwähnen auch die Schaufäden oder Quasten, die Zizit an seinem Gebetsmantel. Die Übersetzung von Martin Luther versteckt das und spricht vom Saum seines Gewandes, wo eigentlich von Zizit die Rede ist. Kranke Menschen haben sich an Jesus gedrängt und die Schaufäden berührt, um geheilt zu werden, die blutende Frau, andere Kranke. Rabbi Jesus, noch nach seiner Auferstehung spricht Maria von Magdala ihn so an, als sie ihn erkennt. Rabbuni sagt sie zärtlich, mein Rabbilein.

In diesem Jahr begehen wir landesweit 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Seit 321, lange bevor es so etwas wie Deutschland gab, wohnten Jüdinnen und Jüden hier, gestalteten die Gesellschaft mit, über alle Verfolgungen und Pogrome hinweg. Wenn wir uns mit unserer Vergangenheit kritisch auseinandersetzen, nehmen wir unsere Verantwortung wahr und gewinnen Würde zurück.

Reformation heißt Veränderung. Wir verändern uns ständig, als Menschen, als Gesellschaft, als Kirche. Wir entdecken neu, wieviel  uns mit unserer jüdischen Mutterreligion verbindet. Das wirft ein neues, überraschendes Licht  auf unseren Glauben und macht uns reicher. Rabbi Jesus, er möge uns lehren und uns Wege des Lebens weisen.

Predigt zum Reformationstag über 5. Mose 6,4-9
mit einem Bild von Clara Maria Goldstein, zu finden bei https://sites.google.com/site/rabbijesusartmuseum/galleryiii
Andere Predigt zum Reformationstag: Ein feste Burg?
Weitere Predigten im Jahreslauf

 

* Höre Jisrael, der Ewige unser Gott, der Ewige ist Eins. Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Vermögen. Und es seien diese Worte, die Ich dir heute auftrage, auf deinem Herzen. Schärfe sie deinen Kindern ein und sprich in ihnen, wenn du zu Hause sitzest und wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst. Binde sie zum Zeichen an deine Hand, und sie seien als Denkband zwischen deinen Augen. Schreibe sie an die Türpfosten deines Hauses und deiner Tore. (Debarim 6, 4-9)

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