Jüdisches Christkind – Heiligabend 2019

Ich habe eine Kippa mitgebracht. Das ist eine kleine, kreisrunde Kappe. In manchen jüdischen Familien tragen die Männer so eine Kippa. Manchmal laufen auch die Jungs schon mit einer Kippa auf dem Kopf herum. Sie wissen: wenn sie groß werden und ihren 13. Geburtstag feiern, veranstalten ihre Eltern ein großes Fest. Bar mizwah heißt es. Zur Bar mizwah bekommen viele jüdische Jungs eine neue Kippa aus glänzendem Stoff.

Foto: W.Cug

Auf diesen Tag bereitet sich jeder Junge wochenlang vor. Er beschäftigt sich mit der Bibel. Er lernt Psalmen auswendig. Das sind hebräische Gebete in der Bibel, und es gibt für jede Lebenslage passende, für die glücklichen Momente und die ausweglosen Situationen. Auch in der Kirche beten wir jeden Sonntag einen Psalm, denn der christliche Glauben hat jüdische Wurzeln.
Wenn endlich der Tag der Bar mizwah gekommen ist, besucht die ganze Familie den Gottesdienst in der Synagoge. Der Junge kommt nach vorn. Er stellt sich vor die Leute und liest laut einen Abschnitt aus der Bibel vor. Damit gilt er als erwachsen und gehört zu den Männern. Wenn er in eine Synagoge geht oder auf den Friedhof, setzt er eine Kippa auf. Das gehört sich in den meisten jüdischen Gemeinden  so.

Wir feiern heute den Geburtstag eines jüdischen Babys. Jesus war Jude und seine Eltern und alle seine Freundinnen und Freunde auch. Er wurde nach jüdischer Sitte eine Woche nach seiner Geburt beschnitten, er lernte in der hebräischen Bibel lesen, er feierte Bar Mizwah mit seiner Familie in Jerusalem. Jesus nahm seinen Glauben sehr ernst. Schon als Teenager diskutierte er mit den Rabbinern darüber und wurde später selbst Rabbi genannt.

Die Kirchen wollten nicht so gern daran erinnert werden (und haben jüdische Menschen schlechtgemacht und verfolgt). Doch Bilder und Lieder haben die Erinnerung wachgehalten. Das Lied „Es ist ein Ros entsprungen“ umschreibt die Herkunft des Babys: „von Jesse kam die Art“. Die Wurzeln reichen bis in das jüdische Königsgeschlecht, zu David, dem Friedenskönig, und seinem Vater Jesse. Und Frieden und Gerechtigkeit, nicht Streit und Unterdrückung, sollten mit dem kleinen Jungen in den Alltag der Menschen einziehen. Ist es so? Würde unser Geburtstagskind, wenn es heute mit einer Kippa auf die Straße laufen würde, nicht sogar selbst bespuckt?

Im Oktober hat ein junger Mann aus unserem Landkreis die Synagoge in Halle angegriffen und zwei Menschen erschossen. Doch anders als in den vergangenen Jahrhunderten stellen Christ*innen sich mit Kerzen vor die Synagoge, zusammen mit tausenden anderen. Sie trauern mit ihnen, sie beschützen die Menschen, die dort beten.  Auf dem Marktplatz von Halle haben sie ein Meer von Rosen abgelegt.  „Mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht“ des Hasses liegen Rosen und es erwächst etwas Neues: eine Stadt will miteinander leben ohne Hass, Vorurteile und Gewalt.

Heute ist Heiligabend. Die Kippa in meiner Hand erinnert mich an das kleine jüdische Kind, für das wir heute die Kerzen am Weihnachtsbaum anzünden und uns beschenken. Dieses Baby ist selbst ein Geschenk. Ein Neugeborenes ist immer wundervoll. Doch dieses Baby ist ein besonderes Geschenk. Denn es ist gleichzeitig beides: ein jüdisches und ein christliches Kind. Das Jesus-Kind gehört allen Menschen. Es gehört auf beide Seiten. Es kann uns versöhnen mit unseren Wurzeln und uns über Grenzen hinweg verbinden. Alle können sich heute an ihm freuen. So soll Frieden einziehen in unsere geschmückten Weihnachtsstuben und auf unseren Straßen. Es ist ein Ros entsprungen … Amen.

Andere Predigten zu Heiligabend und Weihnachten
Predigt Jom Kippur und Mansfeld-Südharz
Hier zu den Predigten im Jahreslauf

 

Am 9. Oktober 2019, dem Jom Kippur, verübte ein 27-jähriger aus antisemitischen Motiven einen Anschlag auf die Synagoge von Halle / Saale und erschoss zwei Unbeteiligte. An welcher Stelle können christliche Kirchen dem Antisemitismus besser entgegenwirken als am Heiligabend, wo wir mit Abstand die meisten Menschen erreichen?!

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2 Gedanken zu “Jüdisches Christkind – Heiligabend 2019

  1. Gefällt mir sehr gut.
    Der Bogen von Weihnachten in das Heute, sowie unser christlicher Ursprung in den jüdischen Wurzeln.
    Dürfen wir das nutzen?

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