Jom Kippur und Mansfeld-Südharz

Ein Jahr ist der Anschlag von Halle jetzt her. Am 9. Oktober 2019 griff ein junger Mann aus unserem Landkreis die Synagoge an, tötete zwei Menschen und verletzte andere. Den Tag hatte er bewußt gewählt: Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Er hat sich intensive mit dem jüdischen Glauben beschäftigt. Aber nicht, um Brücken zu schlagen, sondern aus Haß. Der Antisemitismus, den christliche Kirchen Jahrhundert um Jahrhundert gepredigt haben, wirkt weiter. An uns Christ*innen ist es, uns einzugestehen, daß wir daran mitverantwortlich und mitschuldig sind. Wir beten mit Worten aus Psalm 130.

Was ist Jom Kippur? Die Polizei hätte vor einem Jahr die Synagoge bewachen müssen, wird kritisiert, und die Polizist*innen hätten wissen müssen, daß die Menschen in der Synagoge nichts gegessen haben, als sie sie nach dem Anschlag in den Bus gebracht haben.
Selbst von der Polizei wird heutzutage also erwartet, dass sie sich mit jüdischen Feiertagen auskennt. Wie sieht das bei uns aus, bei Gemeindemitgliedern? Immerhin sind wir die nächsten Religionsverwandten. Jedenfalls ist das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen. Was wissen Sie über Jom Kippur?

[Vorlesen von Informationen zu Jom Kippur, siehe unten * ]

Der Täter von Halle stammt aus unserem Landkreis. Er ist in unserem Umfeld groß geworden, ist in Eisleben auf’s Gymnasium gegangen, die Mutter hat an einer Grundschule Ethik und Kunst unterrichtet. Er ist – wie Martin Luther – ein „mansfeldisch Kind“. Er hat sich das Ziel seines Anschlags genau überlegt. Zur Auswahl standen auch Moschee und Antifa-Zentrum. Er haßt selbstbewußte Frauen, Feminismus, Islam, Zugewanderte. Dafür macht er das Judentum verantwortlich.
Wie kommt es, daß in unserer Umgebung ein junger Mensch so viel menschenfeindliche Vorstellungen kultivieren kann und niemand hellhörig wird, nicht im Kindergarten, nicht in der Grundschule, nicht in den Arbeitsgemeinschaften auf dem Gymnasium, nicht in der Nachbarschaft?

Was für ein Klima in unserem Landkreis herrscht, könnten uns Menschen sagen, die Angst haben und gegen die hergezogen wird auf der Arbeit, am Biertisch, in der Schule. Worte sind nicht Schall und Rauch. Aus Gedanken sind am 9. Oktober 2019 Taten geworden.

Jom Kippur heißt Versöhnungstag. Anders als in den christlichen Kirchen wird die Bitte um Vergebung im Gottesdienst in der Wir-Form gesprochen. Nicht nur einzelne haben sich verfehlt. Die ganze Gemeinschaft bekennt sich schuldig, es ist ein kollektives Schuldeingeständnis. Alle sind mitverantwortlich. Und sei es, daß sie geschwiegen haben. Wie verhalten wir uns beispielsweise, wenn Witze gerissen werden über verletzliche Gruppen und Minderheiten?

Ein Versöhnungstag könnte auch uns gut tun. Ein Tag der Versöhnung und Reue, an dem wir über unsere kollektive Verantwortung nachdenken, um Verzeihung bitten und überlegen, wie wir uns als Gemeinschaft anders verhalten können. An so einem Tag könnten wir uns bewußt machen, wo unter uns Abwertung und Vorurteile gedeihen und welche Konsequenzen sie haben. Es gehört Mut dazu, wenn wir Schuld nicht auf einen einzelnen abschieben und ihn zum Täter machen, sondern uns eingestehen: wir alle haben versagt. Als Menschen im Landkreis, in unseren Dörfern und Städten, als Zivilgesellschaft.

Foto: W.Cug

Und in den Kirchengemeinden wollen wir uns damit auseinandersetzen, wie christliche Verkündigung zum Antisemitismus beigetragen hat, z.B. wie wir über Altes Testament reden, welche Klischees wir von Pharisäer*innen verbreiten. Und wir können überlegen, wie wir zukünftig so von Gott oder von Jesus reden, daß niemand abgewertet und diskriminiert wird.
Der kollektiven Reue und Umkehr ein Fest zu widmen und ein Versöhnungsfest zu begehen, wäre eine Idee, die uns gut zu Gesicht steht. Der Anstoß kommt aus der jüdischen Tradition. Amen.

Weitere Predigten: Pilatus weißgewaschen
Israelsonntag:
Halleluja und Amen: Vereinnahmung und Abwertung von jüdischem Glaubensgut durch christliche Tradition   und   Die Brille von der Schuld der Juden am Tod von Jesus
Heiligabend:
Jüdisches Christkind

Lesung: Jesaja 58,6-8 (Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast…)

** Jom Kippur heißt Versöhnungstag oder Versöhungsfest. Es wird 10 Tage nach dem Neujahrsfest begangen, am 10. Tag des jüdischen Monats Tischri. Am Neujahrstag schlägt Gott drei Bücher auf und die Menschen legen Rechenschaft ab. Ins erste werden die ganz „Gerechten“ eingetragen, die sofort das „Siegel des Lebens” erhalten. Ins zweite Buch werden die ganz „Schlechten“ eingeschrieben. Das dritte Buch ist für die Durchschnittsmenschen bestimmt. Über sie bleibt das Urteil bis zum Versöhnungstag offen. In diesen zehn Tagen können sie bereuen, einander um Verzeihung bitten, Gutes tun und sich verändern. Am Jom Kippur wird das Urteil, das am Neujahrsfest gefällt wurde, besiegelt und bekommt damit Gültigkeit. Der Versöhnungstag ist ein Tag der Reue, der Buße und Umkehr.

Wie alle jüdischen Feste beginnt es am Vorabend, vor Sonnenuntergang. Beim Abendgebet wird das Kol Nidre gesprochen. Am Morgen wird ein Abschnitt aus dem Jesajabuch gelesen, und der Gottesdienst in der Synagogen dauert bis zum Abend.

In Israel bleiben Restaurants und Cafés geschlossen und das öffentliche Leben steht still. Nur Krankenwagen und Feuerwehr sind unterwegs. Säkulare Jüd*innen begannen in den letzten Jahrzehnten, diese Situation für Fahrradtouren auf den leeren Autobahnen zu nutzen. Die meisten Jüd*innen fasten. Es gilt als unhöflich, am Jom Kippur in der Öffentlichkeit zu essen oder Musik zu hören. Ein Widderhorn, der Schofar, kündigt den Sonnenuntergang an. Das Fest endet mit dem Mondsegen im Freien und einem festlichen Essen, das “Anbeißen”. Die Menschen wünschen sich gegenseitig ein glückliches Jahr und gute Besiegelung.  (Informationen z.T. wörtlich aus Wikipedia zu „Jom Kippur“)

 

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