Totensonntag: das Grosse Sterben

Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten. Vor einem Jahr kam das große Sterben auch zu uns. Es kam auf leisen Sohlen. Sein Atem streifte ein Kind. Vielleicht war es auch ein Mann, genau weiß es niemand so richtig. Das Kind bemerkte nichts. Aber die Mutter des Kindes, sie arbeitete im Marienstift. Die trug es unbemerkt ins Heim. Und noch bevor sie es gewahr wurde, hatte es sich im Haus eingenistet. Es sprang über auf die Pflegekräfte, die Luft trug es von Zimmer zu Zimmer, und so kam es zu den Schwächsten, die ihm am wenigsten entgegensetzen konnten:

Epitaph des Ehepaars Mogk

70 Hochbetagte. 54 hauchte es an, 20 nahm es mit. Das große Sterben, es hätte manche von ihnen wohl sowieso irgendwann geholt. Aber diesmal ging es ganz schnell, eine* nach der anderen. Wer hätte sie bewahren können? Die meisten Pflegenden waren ebenfalls krank.
Das Sterben, es hatte vorher einen Bogen um unseren Landkreis gemacht. Aber vor einem Jahr, um den Totensonntag herum, kam es auch in unsere Region. Im Marienstift war der erste größere Ausbruch, bevor es ab Dezember auch anderswo bei uns zu größeren Ansteckungen kam.
Die Angehörigen mußten zuhause sitzenbleiben, und so starben die meisten allein, im Heim oder im Isolierzimmer im Krankenhaus, ohne daß  die Tochter, der Ehemann oder die Mutter am Bett sitzen konnte, die Hand halten und den letzten Atemzug begleiten konnte. Der Tod griff nach allen und machte alle gleich.

Die Epidemie  ließ fast die anderen vergessen, die auch in den Hospitälern lagen und mit ihren eigenen Krankheiten kämpften. Bei anderen wurden Behandlung verschoben oder sie konnten nicht operiert werden, weil sie zu schwach waren und ihre Widerstandskräfte geschwächt. Unfallopfer. Krebskranke. Alte, deren Zeit gekommen war. Erschöpfte, die auf den Tod gewartet haben, Verzweifelte, die ihm in die Arme gelaufen sind. Opfer von Haßverbrechen und häuslicher Gewalt.

Das große Sterben, so wurde in den vergangenen Jahrhunderten die Pest bezeichnet. Sangerhausen verlor in manchen Jahren ein Drittel der Bevölkerung.1565, 1626,1683 waren solche Jahre. Oder 1598. Sonst werden in einem ganzen Monat fünf oder acht begraben. Nun steigen die Zahlen Tag um Tag. 9 Tote, 11 Tote. 17.September 1598: 14 Tote. Allein im September 1598  starben in der Jacobigemeinde 216 Menschen. 10 und mehr Särge wurden übereinandergesetzt, der Friedhof reichte nicht mehr aus. Ganze Häuser blieben unbewohnt, Äcker und Gärten lagen wüst. Auch wenn es für mich schon immer beklemmend war, in den Kirchenbüchern zu blättern und die Zahlen zu sehen, so waren sie doch weit weg. Im letzten Jahr sind sie mir nahe gerückt, die Toten, die Überlebenden. Sie kannten die Ursache nicht und konnten sich weder schützen noch helfen.

Wir heute haben Krankenhäuser, Beatmungsgeräte und Antibiotika. Und trotzdem waren auch Menschen bei uns ausgeliefert und sind gestorben. Und wie damals war ihr Sterben still und oft war auch der Abschied still in diesem Jahr.
Nun geht das Leben weiter ohne sie. Das erste Weihnachten, der erste Geburtstag, der erste Todestag. Mit dem Abstand kommen die Gedanken. Was sie uns bedeutet haben. Was offen geblieben ist. Wofür wir dankbar sind. Wovon wir uns verabschieden, aber auch was wir weitertragen wollen.

Von Gott heißt es im Jesajabuch: Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten (Jes 66,13). Gott ist wie eine Mutter, die ihr Baby stillt, in den Armen hält und in ihrem Schoß wiegt. Jesaja zeichnet Gott als Frau, die ihre vollen Brüste dem Baby anbietet, es tröstet und aufmuntert, es schaukelt und mit ihm spielt. Was für ein schönes Bild für Gott – und so anders als die Bilder von einem Herrn, von einem strengen Richter oder Weltenherrscher, die sich in den Köpfen festgesetzt haben. Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten.

Eine Frau hat mir in erzählt, wie sie die letzten Stunden neben ihrem Mann gesessen hat und ihm die Hand gehalten hat, bis er eingeschlafen ist. So konnten viele nicht sterben. Aber vielleicht war ja Gott da und hat im Zimmer gesessen, als die Krankenhäuser zugesperrt waren. Vielleicht war Gott als Mutter da und hat die Mutter, den Ehemann oder die Tochter vertreten, die nicht hineindurften. Vielleicht war Gott da und hat die Hand gehalten, die Wange gestreichelt, tröstende Worte ins Ohr gemurmelt. Vielleicht hat Gott sich mit ihren Brüsten über die Sterbenden gebeugt, sie und zum Abschied auf die Stirn geküßt und den Atem mitgenommen, den Lebenshauch, der von ihr kam und nun wieder zu ihr ging.

Das große Sterben, es ist immer noch da und wird irgendwann auch zu uns kommen. Der Tod gehört zum Leben und ist zugleich sein Feind. Die Bibel sagt uns, dass wir nicht verloren sind. Gott fängt die Toten auf und hütet sie in ihren Armen. Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten.

Predigt zum Totensonntag über Jesaja 66,10-14
Andere Predigten zum Totensonntag
Zu den Predigten im Jahreslauf

Jesaja 66,10-14 Freut euch mit Jerusalem und jubelt über die Stadt, alle, die ihr sie liebt. Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr um sie trauert!  Weil ihr saugen dürft und euch sättigen an den Brüsten ihres Trostes. Ihr dürft reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. Denn so spricht Gott: Ich breite bei ihr Frieden aus wie einen Strom  und die Herrlichkeit der Völker wie einen rauschenden Bach. Da sollt ihr wie Säuglinge genährt, sollt auf der Hüfte getragen und auf den Knien gewiegt werden. Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten. An Jerusalem sollt ihr getröstet werden und eure Knochen sollen sprossen wir frisches Grün. (Lut, BigS, gekürzt)

2 Gedanken zu “Totensonntag: das Grosse Sterben

  1. Liebe Frau Runge,

    Danke für diese sehr gute Predigt. Und toll, dass Sie jetzt schon für Totensonntag fertig sind – Hochachtung!!
    Darf ich Teile daraus für meine eigene Totensonntagspredigt verwenden?
    Herzliche Grüße aus Haan
    Gabriele Gummel

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