Das Christentum begann in den Häusern. Es kommt aus den Häusern in Jerusalem, Antiochia, Joppe. Das Haus von Maria und ihrer Sklavin Rhode, von Hananias und Saphira, von Tabita in Joppe, der Witwen in Jerusalem. Bei ihnen, in ihren Häusern sammelten sich die ersten Gemeinden und breiteten sich aus, nach Antiochia, nach Syrien, schließlich nach Europa – zu Lydia in Philippi, der ersten europäischen Christin, zu Priska und Aquila in Korinth, bis nach Rom, zur Apostelin Junia und ihrem Mann Andronikus. Die Frauen, denen der Auferstandene die Botschaft am Ostersonntag auftrug: Geht nach Galiläa, sie haben ihren Auftrag erfüllt.
Später trafen sich die Gemeinden im Umfeld von Synagogen und Katakomben. Erst viel später bauten sie Kirchen. Und Klöster. Und Paläste. Und Residenzen, wie die Neue Residenz in Halle.
In Häusern wohnte nur noch der Klerus. Vikarien, Vikariate, hießen sie. Daraus wurden dann die Pfarrhäuser für die Pfarrfamilien mit den vielen Kindern. Im Studierzimmer bereitete der ehrwürdige Herr Pfarrer seine Predigten vor und führte Gespräche. In der Küche, beim Gemüseputzen und Pflaumenmuskochen, schüttete so manche Nachbarin der Pfarrfrau ihr Herz aus und Durchreisende wurden mit einem Teller Suppe bewirtet.
Die Gemeinden hatten kein Haus. Für die Gemeinden waren die Kirchen da: für Trauungen und Leichenpredigten, als Schutz vor vergewaltigenden und plündernden Soldaten, beim festlichen Einzug des Stadtrates oder wenn eine Proklamation des Kurfürsten in Dresden verlesen wurde. Die Kirchen waren der Stolz der Sangerhäuser_innen. Sie waren schön, aber auch ehrfurchtgebietend und im Winter bitter kalt, jedenfalls gewiß kein Ort, um über die Bibel ins Gespräch zu kommen oder Kindern die biblischen Geschichten zu erzählen. Der Katechismus wurde in den Schulen gelehrt. Für die Gemeinde waren nur die Kirchen da.
Erst im 20. Jahrhundert kamen Gemeindehäuser auf. Gemeindemitglieder gründeten Jünglings-, Jungfrauen- und Hilfevereine. Auch die Frauenhilfen waren ursprünglich Helferinnenkreise, die etwa arme Wöchnerinnen besuchten und ihnen Suppe brachten, und als Vereine strukturiert. In den Gemeindehäusern sammelten sich Chöre und Gesprächsgruppen, wurden Altennachmittage, Bibelabende und Missionsstunden veranstaltet.
Die Gemeinde entdeckte die Häuser neu. Und diese Häuser schenkten uns das, was uns heute als Gemeindeleben selbstverständlich ist. In den Kirchen wurde gepredigt. In den Gemeindehäusern sprachen die Leute miteinander. Oder planten Aktionen. Ohne die Gemeindehäuser und ohne die neue Erfahrung, miteinander über die Bibel zu reden, hätte die Bekennende Kirche sich nicht so entfalten können. Ohne die Gemeindehäuser hätte es in der DDR gar keine Räume gegeben für die Umwelt-, Friedens- und Menschenrechts-Gruppen, der 80-er Jahre, die das Land verändert haben und durch die neue Gesichter in die Gemeinden fanden. Die Jungen Gemeinden brachten Leben in die Gemeindehäuser mit Diskussionen über Wehrdienst und Luftverschmutzung bei Fettbrot, Tee und Liedern zur Klampfe.
Das Christentum begann in Städten, in Häusern. Es waren ganz unterschiedliche Menschen, die sich davon angezogen gefühlt haben, so unterschiedlich, wie auch die Gruppen in unserem Gemeindehaus sind. Freie Bürger, kleine Handwerker waren die wenigsten. Auffallend viele Frauen finden wir. Doch die meisten gehörten zur Unterschicht, waren Sklavinnen und Sklaven oder ehemals Versklavte. Sie kamen nach der Arbeit herbeigehetzt, mit knurrendem Magen, und wußten, was es bedeutet, nicht frei über ihre Zeit, ihre Person, ja ihren eigenen Körper zu verfügen. In den Hausgemeinden beteten sie und lasen aus der Bibel, dem Ersten Testament, teilten das Brot und erlebten Jesus in ihrer Mitte. Vor allem erlebten – oder besser gesagt lebten – sie hier Freiheit, einen hierarchiefreien Raum.
Die Gesellschaftsordnung zwängte alle in Rollen, nach Besitz, Herkunft, Religion, Geschlecht, und verkrüppelte sie. In der Gemeinde spielten diese Identitäten keine Rolle. Wir haben gerade in der Bibelwoche aus dem Galaterbrief gelesen: ihr seid zur Freiheit berufen. Was sonst über Image und Bewegungsfreiheit bestimmt, zählt nicht. Nicht versklavt noch frei, nicht griechisch oder jüdisch, nicht männlich oder weiblich – ihr seid alle eins, neu in Christus.
Das haben sie praktiziert. Sie haben eine neue Art von Zusammenleben erprobt, jenseits der alten Rollen. Deshalb waren die Gemeinden so attraktiv.
Die Häuser der ersten Gemeinden wurden zu Inseln einer neuen Welt, eine Art Zeitkapseln mitten in einer Umgebung, die von Sklaverei und Unterdrückung bestimmt war. In ihnen bewegten sie sich in einer neuen Zeit mitten in der alten. Daß das nicht ohne Spannungen abging, davon lesen wir im Neuen Testament, und daß sich die einengenden Kräfte oft durchgesetzt haben, davon erzählt die Kirchengeschichte. Aber die Vision, sie bleibt und lockt voran.
Unser Gemeindehaus ist ein Haus wie jedes andere in Sangerhausen und ist doch mehr als ein Privathaus. Es hat Zimmer, Küche, Toiletten, wie wir es von zuhause gewohnt sind, und ist doch Begegnungsfläche für viele. Es trägt beides in sich: das Persönliche und das Öffentliche, das Intime, das wie in unseren Wohnungen Sicherheit bietet, und das allgemein Zugängliche.
Diese Zwischenfunktion ist eine Chance. Wir können hier reflektieren, wie es zu Hause in unseren Häusern zugeht. Wie leben wir in unseren Familien, im Privaten, miteinander? Engen wir einander ein, geben uns Freiheit? Wie können wir über uns hinauswachsen, alte Rollen hinter uns lassen? Wie können unsere Häuser, Wohnungen und Beziehungen zu Zonen der Freiheit, des Mutes, der Liebe werden?
Im Gemeindehaus kann und soll zugleich das Draußen Thema sein. Wie geht es zu im Haus, das wir Stadt nennen oder Land oder Gesellschaft? Wo fallen bei uns Menschen hinunter, bekommen keine Chance? Was sind die Probleme, die heute öffentlich angesprochen werden müssen? Wo müssen wir einhaken und etwas tun? Wo sind wir als Christinnen und Christen in Sangerhausen gefragt?
Im geschützten Raum des Gemeindehauses kann verhandelt oder ausprobiert werden, was dann zu Hause oder in der Öffentlichkeit einmal wirklich werden kann. Wir brauchen solche Häuser, für uns selbst, für unsere Stadt – als Denkraum, als Labor, als Übungsplatz.
Komm in unsre stolze Welt, haben wir gesungen (EG 428), komm in unser reiches Land, in unsre laute Stadt und in unser festes Haus. Auch für ein Gemeindehaus gilt, daß es sich wandeln muß, zum leichten Zelt wird, damit wir nicht rückwärtsgewandt werden. Das Christentum begann in den Häusern, indem es das Neue vorweggenommen und die Denk- und Handlungsmuster, die Ungerechtigkeit zementieren, abgeschüttelt hat.
Das Christentum begann in Häusern und ich wünsche mir, daß das Gemeindehaus zum Hoffnungsraum wird, zum Freiheitsraum. „Wenn von Güte unsre Häuser ganz erfüllt sind, wenn wir lernen, wie man Frieden schafft statt Krieg, wenn wir alle Fremden unsre Nächsten nennen, wissen wir: Gott ist bei uns“ in diesem Haus. (aus dem Lied „Wenn die Armen, was sie haben, noch verteilen“)
Predigt am 29. März 2015 zur Einweihung des Gemeindehauses