Die Sonne steht schon ziemlich hoch. Die Bäuerin richtet sich auf, wischt sich den Schweiß von der Stirn und streckt den Rücken aus. Die Arbeit im Weinberg ist anstrengend. Und Arbeit gibt es das ganze Jahr über genügend. Zweige hochbiegen, damit die Sonne an alle Triebe kommt. Hacken. Düngen. Die Reben festbinden und Blätter entfernen, so daß die Luft in den Reihen zirkulieren kann. Verfaulte Beeren ausschneiden. Und immer wieder hacken und düngen. Nur im Herbst, bei der Ernte, helfen Saisonkräfte, tageweise. Manchmal kommen sogar noch am Nachmittag, kurz vor Feierabend, zusätzliche Leute zum Lesen. Sonst würden sie es gar nicht schaffen. Sie sind ja nur eine Handvoll Sklavinnen und Sklaven. Aber sie macht es schon seit vielen Jahren.
Jetzt sind sie beim Rebschnitt, schon seit Wochen. Nur die Zweige bleiben stehen, die in diesem Jahr tragen sollen. Alles andere wird weggeschnitten. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Da braucht es Erfahrung, gutes Augenmaß, eine ruhige Hand. Und natürlich scharfes Werkzeug. Der Rebschnitt entscheidet über die Ernte, über Menge und Qualität der Trauben. Wenn am Stock nur wenige Trauben reifen, entwickeln sie ein intensiveres Aroma. Der Wein wird besser und teurer und bringt dem Winzer mehr Gewinn. Freilich, sie können so nur weniger ernten. Und wer weiß, was das Jahr bringt und wie die Preise im Herbst stehen? Aber das ist nicht ihre Entscheidung. Dafür ist der Geschäftsführer zuständig. Der muß dafür vor dem Winzer geradestehen, dem Besitzer des Weinberges.
Ich bin der Weinstock. Das ist eins der sieben Ich-bin-Worte aus dem Johannesevangelium. Sie sind uns vertraut, vielleicht zu vertraut. Es tut gut, sie mit frischen Augen zu lesen und zu hören. Es hilft, wenn wir im Hintergrund mithören, was Jesus sonst von Weingütern und ihren Herren erzählt. Da ist es nämlich nie der Besitzer, der den Weinberg beackert. Solche Güter gehören im alten Israel oft einem Grundherrn, heute würden wir sagen Investor, der im Ausland sitzt und seine Pacht einziehen läßt. Im Lukas-Evangelium lesen wir etwa:
„Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und verpachtete ihn an Weingärtner und reiste für lange Zeit außer Landes. Und als die Zeit kam, schickte er einen Knecht zu den Weingärtnern, damit sie ihm seinen Anteil gäben an der Frucht des Weinbergs.“ (Lk 20,9-10; vgl. Mk 12,1-2) Die Arbeit erledigen Abhängige, oftmals Sklavinnen und Sklaven. Die Pacht ist hoch, die Armen überschuldet, im Gleichnis von Jesus kommt es zu Aufständen.
Aber hier ist es völlig anders. Ich bin der Weinstock, Gott ist der Weingärtner, sagt Jesus. Oder: Gott ist meine Gärtnerin, übersetzt die Bibel in gerechter Sprache.* Gott ist kein Winzer, kein Grundherr, sondern einer, eine von denen, die sich das Jahr über abplagen. Gott arbeitet. Gott steht mit den anderen zwischen den Reihen, beschneidet die Äste, reinigt die Blüten, wägt ab, welche Zweige stehen bleiben und welche entfernt werden. Gott sorgt dafür, daß die Trauben reich tragen und voll werden.
Gott ist keiner der Hobby-Winzer, die sich nur zum Zeitvertreib und aus Liebhaberei ein paar Weinstöcke halten. Oder einer der Weinliebhaber, die voller Stolz überall bekanntgeben: Ich habe ein Weingut in Südfrankreich, so wie Gerard Depardieu. Der macht die Arbeit wohl kaum allein. Dafür hat Depardieu Leute, für’s Hacken und Jäten, Spritzen und Beschneiden. Er selbst, denke ich, kommt höchstens zur Lese. Und natürlich zur Weinprobe.
Doch Jesus erzählt vom harten Broterwerb. Gott schleppt die Kiepe auf dem Rücken so wie die Arbeiter im Weinberg, die Tagelöhnerinnen und Tagelöhner, die noch am Nachmittag auf Beschäftigung warten und bei denen es nur reicht, wenn die gesamte Familie mit anpackt (Mt 20). Frauen und Kinder verdienen zwar rund die Hälfte weniger als die Männer für die gleiche Arbeit. Aber nur so kommen sie über die Runden. Ein Denar pro Tag, davon kann eine Familie nicht leben. Wein ist ein Luxusgut. Einen Weinberg können sich noch weniger leisten. Tagelöhner_innen, wie Jesus sie im Matthäus-Evangelium schildert, haben offensichtlich überhaupt kein Land mehr, sondern mußten ihren Besitz nach und nach verpfänden und verkaufen. Nicht wenige gerieten so in Schuldsklaverei. Wer zu kämpfen hat, um überhaupt satt zu werden, hat keinen Weinstock vor der Hütte stehen, den er oder sie abends liebevoll gießt und pflegt. Bei ihnen ist Gott zu finden, nicht bei den Weinbergbesitzern, die außerhalb des Landes sitzen, Rendite aus dem Weinberg ziehen und ihre Leute schicken, die für sie die Pacht kassieren. Im übrigen ist es heute weltweit kaum anders: „50 Prozent der Haushalte, die nicht genug Nahrung haben, sind kleinbäuerliche Familien. Weitere 20 Prozent, denen es ebenso geht, sind landlos.“ **
Das zweite: Jesus schildert Gott beim Verschneiden der Reben. Wein veredeln, das ist eine Kunst für sich. Gott braucht Erfahrung, um die richtigen Zweige zu verschneiden und die anderen nicht zu beschädigen. Paulus wird im Römerbrief vom Aufpfropfen schreiben. Aber hier ist Gott beim Beschneiden und sorgt dafür, daß die Zweige am Stamm bleiben und daß die Trauben saftig und aromatisch werden.
Gott sucht aus, welche Zweige bleiben und welche nicht. Wenn wir das Ich-bin-Wort genau lesen, kann es bedeuten: Nicht wir müssen uns mühen, am Stamm und bei Jesus zu bleiben, sondern Gott selbst kümmert sich darum. Wir müssen uns nicht um die Verbindung zum Stamm sorgen oder dafür, daß wir genügend Weintrauben hervorbringen. Sondern das passiert ganz automatisch. Gott hat schon gearbeitet und wir bringen auf jeden Fall saftige Früchte.
Zum dritten: der Weinberg ist in der Bibel ein Bild für Wohlstand und Frieden. Er kann nur gedeihen, wenn kein Krieg ist. Wenn die Armee eine Stadt belagert, hacken die Soldaten die Weinstöcke vor der Stadtmauer ab, allein aus strategischen Gründen. Sie brauchen die Stämme aber auch als Brennholz, und schließlich verwüsten sie alles, um die Bevölkerung zu demoralisieren und ihren Widerstand zu brechen – als Taktik der verbrannten Erde. Noch Jahre später erzählen verlassene Häuser und verwilderte Weinberge vom Krieg und von der Gewalt gegen Mensch und Kreatur, die ihre Lebensgrundlagen zerstört und ihnen die Hoffnung geraubt hat.
Wenn aber die Dornenranken zwischen den Stöcken wieder ausgerodet, die Erde in den Reihen geharkt ist, die Stümpfe wieder zu grünen beginnen, dann ist das ein Hoffnungszeichen: Leben und Zukunft halten wieder Einzug.
Gott bringt den Weinberg in Ordnung. Gott harkt und jätet, zupft und schneidet, pflanzt Wein und preßt Trauben. Gott beackert die Erde. bringt die Schöpfung zum Blühen und behütet sie.
Am 26. April 1986 – auf den Tag genau vor fast 4 Jahrzehnten – explodierte der Reaktor von Tschernobyl und verwandelte die Gebiete um das Atomkraftwerk in eine Todeszone. Die Katastrophe hat uns gezeigt, wie zerstörerisch wir mit der Erde umgehen. Die Bibel erzählt schon auf den ersten Seiten, wie Gott sich die Schöpfung gedacht hat: wie einen fruchtbaren Garten. Von Anfang an legt Gott selbst unermüdlich Hand an, pflanzt, legt Bäche an, formt Menschen und Tiere aus Ton und belebt uns mit ihrem Atem, näht Kleider. Jesus greift das Bild auf. Ich bin der wahre Weinstock und Gott ist meine Gärtnerin. Die Erde als ein blühender Weinberg, das ist eine Vision, und in diesem Weinberg gibt es Leben und Arbeit für uns alle.
Predigt zu Jubilate über Johannes 15,1-9
Diese Predigt verarbeitet Anregungen aus: Marlene Crüsemann, Claudia Janssen, Ulrike Metternich (Hrsg): Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen. Gütersloh 2014., insbesondere die Aufsätze von Ruth Poser (32 – 45), Wolfgang Stegemann (Das Gleichnis vom Weinberg, 70 – 80) und Ulrike Bail (Gespräche über Bäume, 185 – 189).
* georgos (griech): Bauer,Bäuerin, Landwirt_in
** Bodenatlas. Daten und Fakten über Acker, Land und Erde. Hrsg: Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin 2015, S. 44
Zu Besitzverhältnissen und Bewirtschaftung von Weinbergen: Syrien-Rundschau (Download, Arbeitsblatt für die Gemeinde)
Weitere Predigten in der Osterzeit: hier
Predigten bis Pfingsten und Trinitatis: hier
Predigten in der Trinitatiszeit: hier
Predigten im Jahreslauf: hier
Johannes 15,1-9:
1 Ich bin der wahre Weinstock und Gott ist meine Gärtnerin. 2 Jeden Zweig an mir, der keine Frucht trägt, nimmt sie weg, und jeden, der Frucht trägt, reinigt sie, damit er noch mehr Frucht trage. 3 Ihr seid schon rein durch das Wort, das ich zu euch gesagt habe. 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie der Zweig aus sich selbst keine Frucht tragen kann, wenn er nicht am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr es nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Zweige. Die in mir bleiben und ich in ihnen, die tragen viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Alle, die nicht in mir bleiben, werden hinausgeworfen wie die Zweige und vertrocknen und sie werden gesammelt und ins Feuer geworfen und verbrannt. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben – bittet, was ihr wollt, und es wird euch geschehen. 8 Dadurch erstrahlt Gottes Glanz, dass ihr viel Frucht tragt und meine Jüngerinnen und Jünger seid.
9 Wie mich Gott geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe. (Bibel in gerechter Sprache)