Thomas-Mann-Jahr: Josef und seine Brüder

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? So beginnt Thomas Mann die Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Sie führt uns zurück in die Zeiten des Anfangs, des Wanderns, des Unterwegsseins. Sie führt uns zurück zu den Ursprüngen des jüdischen Glaubens, die auch unsere Wurzeln sind.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Wenn wir uns über seinen Rand beugen und unseren Blick für die Tiefe schärfen, erblicken wir auf seinem Grund gleichzeitig uns selbst.

Josef und seine Brüder: eine Familie mit Kindern, die von verschiedenen Müttern stammen. Es sind zwei Schwestern und zwei Sklavinnen, Rahel und Lea, Bilhar und Silpa. Mit den unterschiedlichen Ausgangspositionen scheint von vornherein der Weg der Kinder vorgezeichnet und ebenso die unterschiedliche Liebe, die sie begleitet. Josef und seine Brüder und Schwestern (Dina ist die einzige, die namentlich erwähnt wird) sind Kinder, die nicht die gleichen Eltern haben. Es ist zugleich unsere Welt heute, die wir im Spiegel dieser Geschichte erblicken. Geliebte und geduldete, bevorzugte, verrohte, unverstandene Kinder. Kinder, die sich wünschen, das einzige, beste, schönste, klügste zu sein und es doch nie werden können. Kinder, die um die Anerkennung der Eltern kämpfen und gegeneinander meinen konkurrieren zu müssen. Kinder, die in ihrer verzweifelten Sehnsucht wünschen, dass der vermeintliche Rivale aus dem Weg geräumt wird. Aufstieg und Fall, Bosheit und Glück, Familienzwist und endliche Versöhnung, das alles ist bei Josef und seinen Brüdern und Schwestern ins Extreme zugespitzt.

Die Bibel erzählt es ungeschminkt. Und sie erzählt die Lebensgeschichte als Gottesgeschichte. In allen Widerfahrnissen des Lebens, in Hoch und Tief ist Gott dabei. Lebensgeschichte als Gottesgeschichte – unser Leben so zu deuten wäre eine spannende Sichtweise auch für uns. Wir können lernen, unsere Geschichten zu erzählen. Und wir können versuchen, sie so zu lesen, dass sich Gott darin entdecken lässt, im Glück und Kraft, aber selbst hinter dem Abgründigen, Rätselhaften, Ungelösten. Unsere Geschichten neu erzählen – die Bibel will uns dazu Mut machen.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit – schöpfen wir daraus.

 

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