Welch merkwürdige letzte Worte! Auf dem Totenbett sollen Goethes letzte Worte gewesen sein: Mehr Licht. Im Volkslied heißt es: Ich wäre ja so gerne noch geblieben, aber der Wagen, der rollt.
Wie werden wir uns einmal aus diesem Leben verabschieden? Noch nicht! oder Warum?! – weil so vieles ungelebt und liegengeblieben ist und wir uns zu viel mit Nebensächlichem abgegeben haben? Wenn es doch endlich zu Ende wäre! – weil das Leben nicht mehr auszuhalten war? Oder gar nicht, weil Tod und Sterben ein zu großes Tabu sind und weder wir noch unsere Nächsten es wagen, über den Abschied zu sprechen, der unweigerlich kommt?
Ich lebe und ihr sollt auch leben. Das sind merkwürdige Worte zum Abschied. Jesus hat mit seinen Freunden – die für ihn seine Familie waren – immer wieder über seinen Tod geredet. Sie wollten das nicht hören, haben abgeblockt. Sie hatten Angst vor solchen Gedanken. Und dann sagte Jesus ihnen diesen Satz. Wer angesichts des Todes so etwas sagt, ist entweder größenwahnsinnig. Oder er muß unwahrscheinlich viel Leben in sich tragen und lebendig sein durch und durch.
„Lebst du noch?“ stand vor einiger Zeit in Sangerhausen an einer Wand. Lebest du noch – oder wirst du gelebt? Schleppst du dich von Tag zu Tag und bist innerlich schon tot? Funktionierst du nur noch wie ein Rädchen im Getriebe ? Wann spürst du, wie das Leben in dir pulsiert?
Kinder sind quicklebendig. Sie stehen immer wieder auf und springen herum. Sie fragen neugierig, fiebern mit, lassen sich begeistern. Auch wenn sie enttäuscht worden sind, vergeben sie oft großzügig und sind bereit, neu anzufangen. Sie hoffen und vertrauen. Das Leben muß ihnen nicht infiltriert werden. Es steckt in ihnen drin und will nach außen. So viel Energie kann Erwachsene an ihre Grenzen bringen. Solche Energie läßt mich ahnen, was Jesus meinte, wenn er von sich behauptete: Ich lebe. Leben ist kein Stillstand, sondern immer wieder neu Bewegung, Herausforderung und Veränderung. Auch Krisen gehören zum Leben dazu. In ihnen liegt die Chance verborgen, daß wir uns wandeln und wachsen. Sie zwingen uns dazu, uns auch mit jenen Seiten des Lebens auseinandersetzen, um die wir sonst lieber einen Bogen machen. Was antworten wir, wenn wir gefragt werden: „Lebst du noch?“
Der Kirche haftet manchmal das Image an, sie würde ständig nur verbieten und den Leuten die Lebensfreude abschneiden. Das hat sie in der Vergangenheit leider oft genug getan. Doch ich denke, daß es genau um das Gegenteil geht: den zu Menschen helfen, daß sie die verschüttete Quelle des Lebens entdecken. Ich lebe und ihr sollt auch leben, sagt Jesus, damit Menschen frei werden und Gerechtigkeit auf der Erde einzieht. Menschen streifen Fesseln ab und überwinden Lähmung, Angst und Demütigung.
Jesus stellt sich dem Tod. Aber er lehnt es ab, sich mit ihm zu arrangieren, selbst als ihm das bittere Ende schon vor Augen steht. Es ist ihm zu wenig, wenn die Leidenden nur getröstet werden. Er ruft zum Leben. Selbst mit seinen Abschiedsworten.
Er lädt uns ein, dass wir unseren Mut zusammennehmen und tatsächlich leben. Er lädt uns ein, dass wir zum Leben anstiften und es um uns herum verbreiten auf der Welt.
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