Ungehorsam. Predigt zur Ausstellung „Jugendopposition in der DDR“

Liebe Gemeinde, Ungehorsam hat einen schlechten Ruf. Kinder, die in der Schule zu viel hinterfragen, gelten schnell als aufsässig oder schwierig. Eltern, die nicht durchgreifen, sondern mit den Sprößlingen lange diskutieren, ob es zu Oma geht oder wie sie sich zu benehmen haben, riskieren herablassende oder mitleidige Blicke. Natürlich wollen wir mit der Rohrstock-Pädagogik vergangener Generationen nichts zu tun haben. Aber gehorchen sollen Kinder trotzdem können. Wir bringen es den Kindern auf die sanfte Art bei. Wir gehen davon aus, daß sie das Nein-Sagen von selbst können. Aber wie sollen sie später einmal Rückgrat zeigen? Gehorsam ist praktischer, es erspart lange Diskussionen, es bewahrt vor Gesichtsverlust und vor Peinlichkeiten in der Öffentlichkeit. Ungehorsam hat einen schlechten Ruf. Dabei sind alle irgendwann und irgendwo ungehorsam. Niemand richtet sich nur danach, was andere sagen. Denn hätten wir keine eigene Meinung, wären wir gesichtslose Marionetten von Erwachsenen, Lehrerinnennnen und Lehrern oder Autoritäten. Für Kinder ist es manchmal eine Mutprobe, vorgegebene Regeln zu durchbrechen.

Auch wenn es alle tun, meistens hängen wir es nicht an die große Glocke. Und haben dabei ein schlechtes Gewissen. Wir haben gelernt, daß wir etwas Verbotenes tun, wenn wir uns verweigern. Das ist fatal, denn dieses schlechte Gewissen hindert uns, daß wir unbefangen darüber nachdenken, wann es nicht nur erlaubt ist,sondern sogar wirklich wichtig wäre. Wenn die Regeln und Ordnungen, die eine Gemeinschaft zusammenhalten, zur Fessel werden.

Es fängt schon beim Wort an: Un-Gehorsam ist ein Un-Wort. Worte mit „un“ am Anfang drücken meistens etwas Negatives aus, so wie Unwetter, Unbehagen oder Unmoral. Unecht. Ungern. Ungläubig. Unpassend. Ungehalten. Unliebsame Überraschungen sind uns unwillkommen. Wer sich ungehörig benimmt, macht sich unbeliebt. Wörter mit un- bezeichnen einen Mangel. Sie verneinen etwas, das was eigentlich gemeint und normal ist. Ungehorsam ist ein Mangel an Gehorsam. Und Gehorsam ist die Norm, das, was normal und erstrebenswert ist. Denen, die ungehorsam sind, fehlt etwas. Gibt es ein positives Wort für ungehorsames Verhalten? Mutige beweisen Zivilcourage. Aber damit hört es schon auf.
Sie sind unangepasst, widerspenstig, respektlos, eigensinnig, renitent. Sie begehren auf, sträuben und widersetzen sich, protestieren, lehnen sich auf. Positiv und einladend klingt das nicht.

Woher kommt es, daß Ungehorsam so negativ besetzt ist und Gehorsam einen solch hohen Stellenwert hat? Hängt es auch damit zusammen, daß Kirche in der protestantischen deutschsprachigen Tradition seit dem 4. Jahrhundert Staatskirche war? Der Kaiser wachte nicht nur über die Kirche, sondern entschied auch, was Gottes Wort war und was falsche Lehre. Eigene Glaubensvorstellungen entwickeln war ein Vergehen zugleich gegen den Staat. Auf Gott hören und der Obrigkeit gehorchen, das verschmolz miteinander. So fiel auf jede Autorität ein Strahl vom göttlichen Glanz, auf König und Fürst, Polizist und Lehrer, Eltern und überhaupt Erwachsene. Sie wurden zu Respekt-Personen. Ihnen widersprechen hieß zugleich sich gegen die gottgegebene Ordnung auflehnen, ja Gott selbst in Frage stellen. Dazu gehörte schon viel Mut, Respektlosigkeit, Überzeugung oder Verzweiflung. Für eine Staatsmacht ist es sehr praktisch, wenn die Religion die Untertanen zum Gehorchen anhält. Kein Wunder, daß Un-Gehorsam sich als Un-Tugend festgesetzt hat und wir wenig Wörter haben, die ihn positiv beschreiben.

Renitenz und Widerspruchsgeist können ebenso lebensrettend sein, genauso wie es lebensrettend ist, an der roten Ampel einer vielbefahrenen Straße dem mütterlichen Nein zu gehorchen. Für die Bibel ist Gehorsam kein Wert an sich, ebensowenig wie Ungehorsam. Sie setzt die Autorität, die Menschen oder Regierungen (oder der Klerus) beanspruchen, nicht mit Gott gleich. Sie deckt auf, wie tyrannisch sich Könige aufführen können. Sie macht klar, wo Gott steht: Auf der Seite der Menschen, die darunter leiden.
Die Glasvitrine am Eingang unserer Kirche ist neu gestaltet. Die Figuren zeigen in den nächsten Wochen eine Szene aus dem Alten Testament, eine Geschichte, die vom Ungehorsam von zwei Frauen erzählt. Die Hebammen Schifra und Pua widersetzen sich den Befehlen des Pharao und werden von Gott gesegnet.

 Wegen einer schweren Hungersnot waren hebräische Familien einst nach Ägypten ausgewandert und hatten sich dort angesiedelt. Nach vielen Generationen waren ihre Nachkommen zahlreich geworden. Der ägyptische König, der Pharao, fühlte sich von ihnen bedroht. Er unterdrückte sie brutal.
Eines Tages gab der ägyptische König den hebräischen Hebammen – eine hieß Schifra, die andere Pua – den Befehl: „Wenn ihr den Hebräerinnen bei der Geburt beisteht und am Geschlecht erkennt, daß es ein Junge ist, dann sollt ihr ihn töten; ist es ein Mädchen, lasst es leben.“
Aber die Hebammen verehrten Gott und befolgten den Befehl des Königs nicht. Sie ließen auch die Söhne am Leben.
Da bestellte Pharao die Hebammen zu sich und herrschte sie an:„Warum widersetzt ihr euch meinem Befehl und laßt die Jungen leben?“
Die Hebammen antworteten ihm: Die Hebräerinnen sind anders als die ägyptischen Frauen. Sie sind stark und gesund. Bevor die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie ihr Kind schon längst zur Welt gebracht.“
Deshalb ließ Gott es den Hebammen gut gehen. Das Volk wuchs und wurde immer stärker. Und Gott segnete die Hebammen und schenkte ihnen viele Nachkommen.(2. Mose 1, 15 – 21)

Zwei einfache Frauen bieten dem Pharao die Stirn. Die Hebammen Schifra und Pua befolgen seine Befehle einfach nicht. Sie bleiben bei dem, was ihnen wichtig ist: dem Leben zum Durchbruch verhelfen. Sie lassen sich nicht einwickeln vo Rassismus, daß unterschiedliche Gesetze für ägyptische und hebräische Mütter angemessen wären. Sie sind einzelne, aber sie tun sich zusammen zu einer kleinen Gruppe. Sie brechen das Gesetz ganz bewußt. Als sie vor den Pharao zitiert werden, geben sie nicht klein bei. Sie wehren sich. Und sie lügen sogar. Die hebräischen Frauen würden schneller gebären, behaupten sie unverfroren. Damit riskieren sie ihr Leben. Das Herz wird ihnen bis zum Hals geklopft haben. Aber es gelingt – mit Mut und Lüge, List und Tücke behaupten sie sich. Sie dürfen ihren Beruf offensichtlich weiter ausüben und setzen ihre zersetzende Tätigkeit fort.
Die beiden passen nicht ins Bild von angepaßten, folgsamen Frauen, die sich leicht einschüchtern lassen. Schifra und Pua sind schlagfertig, solidarisch, sie lügen frech und untergraben die Autorität. Eine beispiellose Geschichte. Die Bibel lobt sie: „Deshalb ließ Gott es den Hebammen gut gehen.“ In anderen Übersetzungen heißt es: Gott segnete sie. Schifra und Pua verhelfen Mose auf die Welt. Mit ihnen beginnt die Geschichte der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten.

„Wir wollen Freiheit!“ Thomas Ammer geht in Eisenberg zur Oberschule und ist FDJ-Sekretär. Entsetzt erlebt er die Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953. Er diskutiert mit Mitschülern und gründet im Herbst 1953 eine Widerstandsgruppe. Sie verteilen Flugblätter. 1956 schreiben sie mit roter Farbe auf einen Eisenbahnwaggon: „Wir wollen Freiheit.“ Zwei Jahre später wird Thomas Ammer verurteilt. 15 Jahre Zuchthaus. Er ist 21.
Wir eröffnen heute die Ausstellung „Jugendopposition in der DDR“. Als Beispiel für viele andere zeigt sie die Schicksale von 18 Jugendlichen, die zwischen 1928 und 1970 geboren sind. Sie haben Musik gehört und T-Shirts bemalt. Sie haben Unterschriften gesammelt, freie Wahlen gefordert, auf Umweltverschmutzung aufmerksam gemacht, sich für Abrüstung eingesetzt. Und sie haben dafür bezahlt. Sie durften nicht studieren, sind im Jugendwerkhof gelandet, wurden abgeschoben. „Mein Grunderlebnis war, mit 20 ins Gefängnis zu kommen und ein fünf Monate altes Kind zu haben.“ (Bettina Wegner)

Wie sich die Jugendlichen widersetzten, wie sie aktiv geworden sind, war sehr unterschiedlich. Aber alle sind ihrem Gewissen gefolgt. Was sie selbst erkannt, empfunden, gedacht haben, war ihnen wichtiger, und sie wollten nicht länger Rädchen im Getriebe sein.
Dafür haben sie zerbrochene Lebenswege und gestohlene Jahre in Kauf genommen. Aber was wird mit dem erlittenen Unrecht, den Nachteilen? Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt, Haus, Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder, Äcker, stellt Petrus fest. Jesus verspricht ihnen hundertfach Erstattung und in Gottes neuer Welt ewiges Leben (Markus 10, 28 – 31). Ich weiß nicht, ob das immer so aufgeht. Wir haben nach 1945 und nach 1989 – einmalig in der Geschichte – Opfergesetze. Aber fehlende Ausbildungsabschlüsse, verschwundene Jahre, seelische Wunden lassen sich nicht so einfach erstatten, von der Bürokratie ganz abgesehen. Warum haben junge Leute so viel in Kauf genommen?

Ich wollte nicht mehr schweigen. Und ich wollte nicht gehen. (Gabriele Stötzer)
„Totalitären Regimen – egal welcher politischen Couleur – muss man aktiv entgegentreten.“ (Michael Gartenschläger)
Ich versuche, in der Wahrzeit zu leben, und stoße auf viele Lügen (Doris Liebermann)
Das ganze Bildungssystem in der DDR ist verlogen und scheinheilig. (Evelyn Zupke)
Ich will nicht nur die Fäuste in der Tasche balllen. (Tina Krone)
‚Ich ändere eine oft geprüfte Glaubensentscheidnugn nicht einfach deshalb, weil mir daraus Nachteile erwachsen könnten.“ (Reiner Bohley)
Eine Armee, egal welche, kann meiner Ansicht nicht human sein (Detlef Pump)
Uns hätte das Schweigen geschadet.
(Ralf Hirsch)
Sie trieben mich auf einen Berg, der keinen anderen Abstieg zuließ als den des Gewissens. (Bernd Eisenfeld)

Leute wie sie sind moderne NachfahrInnen von Schifra und Pua, den Hebammen aus der Bibel. Hat es sich gelohnt? Auf lange Zeit hat ihr Mut, ihr Auflehnen, ihr Leiden Früchte getragen. Es hat eine ganze Gesellschaft umgestürzt. Und auch die Geschichte der Hebammen hat Folgen und geht weiter: Mose wird geboren, der einst das Volk aus der Sklaverei in die Freiheit führen wird. Mit ihrem Ungehorsam hüten die Hebammen das Leben. Sie öffnen den Schoß der gebärenden Mutter des Mose, sie werden zu Toröffnerinnen auf dem Weg in die Freiheit. Gott verehren, Gott gehorchen macht sie zu stolzen, selbstbewußten Frauen, die tun, was sie denken, und sich von keinem Pharao hineinreden lassen. Die wirklichen Fortschritte in der Geschichte haben mi einzelnen angefangen, die nicht mehr einfach hingenommen haben, was üblich war. Sie waren allein, wurden ausgelacht, haben Kopf und Kragen risikiert. Doch sie haben unbeirrt geglaubt, daß es in der Welt anders zugehen kann.
Gott segnet die widerspenstigen Hebammen und Gott segne alle, die sich heute gegen Fremdenfeindlichkeit stark machen, für die bedrohte Schöpfung eintreten und oft allein dastehen. Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit und die um der Gerechtigkeit willen leiden (Matthäus 5, 6+10).

Predigt am 19.8.2012 über 2. Mose 1,15-21

Weitere Predigten in der Trinitatiszeit: hier
Predigten im Jahreslauf: hier

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