Wie sollen wir essen?
Es war einmal eine Königstochter, die lebte mit ihrem Prinzen auf einer hohen Burg. Sie liebten sich inniglich, und wenn sie zum Essen in den Saal schritten, hielten sie sich bei der Hand.
Als alle bei Tisch saßen, sprach der Graf das Dankgebet, und die Schüsseln wurde aufgetragen: Gerstenmus, dampfende Gemüsesuppe und süßer Hirsebrei.
Alle nahmen ihre Löffel und griffen zu.
Doch die Königstochter neigte den Kopf zu ihrem Prinzen und fragte ihn leise: woher kommt das Essen? Der Prinz antwortete: Das Essen kommt aus meines Vaters Land. Abermals fragte die Königstochter: Wer hat die Gerste gesät, wer hat die Hirse angebaut und das Gemüse?
Der Prinz antwortete: Bauersfamilien haben es gebracht.
Die Königstochter fragte zum dritten Mal: Haben sie es freiwillig gegeben oder haben es die Soldaten mit Gewalt geraubt?
Aber der Prinz wußte keine Antwort.
Da schüttelte die Königstochter ihren Kopf und sprach: Wenn ich nicht weiß, ob das Essen gerecht ist oder ungerecht abgepreßt, so will ich es nicht zu mir nehmen.
An diesem Tag ließ sie ihren Löffel auf der Tafel liegen und stand hungrig wieder auf.
Auch am nächsten Tag rührte die Königstochter die Speisen nicht an. Sie hatte eine Bäuerin getroffen, die Brote zum Burgtor brachte. Ausgezehrt war ihr Gesicht. Die Bäuerin hatte selbst nicht genug zu beißen und mußte trotzdem Abgaben zur Burg bringen.
Als der Graf das Dankgebet gesprochen und das Brot aufgetragen wurde, sprach die Königstochter zum Prinzen: Ich will nichts essen, was ungerecht erworben wurde. Abermals stand sie hungrig auf, als die Tafel aufgehoben wurde, denn sie litt lieber Hunger als Ungerechtes zu essen.
Am dritten Tag glänzten die Augen des Prinzen, als sie sich zu Tisch setzten. Der Graf sprach das Dankgebet, und Schüsseln wurden hereingetragen: Gebratene Täubchen, dazu Krüge voll frischen Wassers.
Die Königstochter wandte ihren Kopf zu ihrem Gemahl und frage leise: Woher kommt das Essen?
Der Prinz antwortete: Ich selbst habe es gebracht. Die Täubchen habe ich selbst im Burghof gefangen und das Wasser habe ich aus dem Burgbrunnen geschöpft.
Da rief die Königstochter ihre Dienerinnen und sprach: Heute wollen wir essen, heute wollen wir trinken, heute wollen wir uns freuen. Es ist gerechtes Essen.
So vergingen Tag um Tag. Nie vergaß die Königstochter den Prinzen zu fragen, woher das Essen kommt. Wenn es ungerecht war, rührte sie es nicht an. An manchen Tagen sprach sie: Heute wollen wir essen. An anderen: Heute wollen wir trinken. Wenn sie aber rief: Heute wollen wir essen und trinken, dann klatschte sie in die Hände und es wurde ein rechtes Freudenmahl, und sie stillte ihren Hunger.
Ebensowenig vergaß die Königstochter die Bäuerin, die das Brot gebracht hatte und selbst Hunger litt. Sie stieg in die Hütten der Armen, besuchte sie und pflegte die Kranken.
Als die Königstochter ihr drittes Kind zur Welt brachte, starb ihr Mann. Sie verließ die Burg und wanderte in die Welt. In einer großen Stadt lebten viele Kranke. Hier ließ sie sich nieder und pflegte die Kranken bis zum Ende ihrer Tage.
Das ist kein Märchen, sondern die Geschichte der Landgräfin Elisabeth von Thüringen. Sie lebte vor 800 Jahren. Als kleines Mädchen von 4 Jahren wurde sie aus Ungarn nach Eisenach gebracht. Auf der Wartburg heiratete sie mit 14 Jahren Landgraf Ludwig. Aber sie verhielt sich nicht, wie es von einer Gräfin erwartet wurde. Sie scheute Schmutz nicht, kümmerte sich um Aussätzige, verschenkte ihren Schmuck an Bedürftige. Und sie aß nur, was nicht durch ungerechte Abgaben erpreßt war. Sie wurde nicht alt, starb mit 24 Jahren an Auszehrung in Marburg.
Gerecht essen. Das ist eine schöne Idee. Woher kommt unser Essen? Welchen Lohn bekommen die Bäuerinnen, die die Kaffeebohnen ernten, die Bananenpflücker? Können sie davon leben oder ist es ein Hungerlohn? Wie werden die Schweine gehalten, deren Fleisch auf unserem Teller landet? Müssen sie so schnell wachsen, daß sie kaum noch stehen können und Schmerzen in den Gelenken haben?
Woher kommt unser Essen? Ist unser Essen gerecht?
Das Beispiel von Elisabeth kann uns anregen, daß wir heute nachfragen, so wie sie sich damals erkundigt hat. Elisabeth hat lieber gehungert, als Ungerechtes anzurühren. Wir brauchen nicht hungern. Es gibt in den Supermärkten inzwischen fair gehandelte Waren, von denen die Menschen, die sie herstellen, leben können. Wir können dankbar sein, daß wir heute Essen im Überfluß haben. Wir können sorgfältig damit umgehen und wir können teilen.
Erntedankfest-Andacht 27.9.2012
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