Erschossene Teenager, tote Kinder, verwaiste Eltern – der junge Mann aus Nain Lk 7,11-13

[Der Predigttext wird erst während der Predigt verlesen.]
„Chicago ist eine Stadt voller Mauern. Wenige von ihnen sind sichtbar. Einige sind fühlbar, man kann sie erahnen wie ein Hologramm im Dämmerlicht. Sie schlängeln sich durch Bezirke und zwischen Bezirken, grenzen weiße von schwarzen und Latinovierteln ab, die reichen von den armen. Die unsichtbaren Mauern sehen nur jene, die in unmittelbarer Nähe leben.“ [Rieke Havertz: Eine Knarre für 200 Dollar. taz 23.8.2013]

Wie Maria. Die „Fahrt in die Innenstadt dauert mit der U-Bahn keine halbe Stunde. Doch Marias Welt sind die Straßen rund um ihr Haus. Der Tatort. An einem Abend im September 2001 verließ ihr damals 19-jähriger Sohn die Wohnung, überquerte die Straße und geriet ins Kreuzfeuer eines Waffengefechts. ‚Ich habe ihn gehalten, als er starb.‘ … Seinen Namen spricht Maria nicht aus. Fast zwölf Jahre später ist es nicht einfacher geworden, mit dem Verlust umzugehen. „Es wird schwerer, je mehr Zeit vergeht“, sagt sie. Die Sachen ihres Sohns um sich zu haben, die die Lücke so schmerzhaft ausschmücken und doch niemals auf dem Müll landen werden. Sich seine Zukunft auszumalen, immer wieder. „Am Anfang realisiert man nicht, dass jemand gegangen ist. Dann spürt man seine Abwesenheit immer deutlicher.“
Marias Nachbarin Arcelia ging es ähnlich. Ihr Sohn Aurelio „war 16, als er in der Nacht zum 5. Dezember 2010 erschossen wurde. Arcelia erfuhr es erst am nächsten Morgen. Sie gibt sich selbst die Schuld. ‚Die Eltern treiben ihre Kinder den Gangs in die Arme. Ich fing an zu arbeiten, und mein Mann trinkt sehr viel …‘ Die Stimme versagt Arcelia häufig. Dabei hatte sie versucht gegenzusteuern. Sie schickte ihren Sohn, der Mitglied einer Gang war, für neun Monate nach Mexiko, damit er sich ändert. Und sie glaubt, dass Aurelio sich geändert hatte. Er kam nach Hause und schloss die Schule ab. Fünf Tage danach starb er. … Die Täter wurden nie gefasst. … Sie hat keine Hoffnung mehr. Sie ist 39. Das alles, sagt sie, bringt sie langsam um.“ [Rieke Havertz: Eine Knarre für 200 Dollar. taz 23.8.2013]
Willkommen im Predigttext!

Epitaph des Ehepaars Mogk
Epitaph des Ehepaars Mogk

Bald darauf gelangte Jesus in eine Stadt namens Nain, begleitet von seinen Jüngerinnen und Jüngern und einer großen Volksmenge.
Als sie sich dem Stadttor näherten, seht, da kam gerade ein Trauerzug heraus. Der Tote war der einzige Sohn seiner Mutter gewesen und diese war bereits Witwe. Eine große Menge aus der Stadt begleitete die Frau. Jesus sah sie, hatte Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: „So weine doch nicht!“
Er trat an die Bahre heran und berührte sie, da blieben die, die sei trugen, stehen. Er sprach. „Junger Mann, ich sage dir: steh auf!“
Da setzte sich der Tote auf und begann zu reden, und Jesus übergab ihn seiner Mutter.
Da wurden alle von Ehrfurcht ergriffen und lobten Gott und sagten: „Ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden.“ Und: „Gott hat sich unserem Volk rettend zugewandt.“ (Lk 7,11-13, Bibel in gerechter Sprache)

Der Jüngling zu Nain, so heißt diese Geschichte bis heute in den Lutherbibeln. Aber wer sagt heute schon „Jüngling“? Teenager, junger Mann, Halbwüchsiger – das würde es schon eher treffen. Und beschaulich – erbaulich ist die Geschichte auch nicht. Sie ist Realität für Mütter, die um ihre toten Söhne weinen. Söhne, die erschossen wurden, zusammengeschlagen, totgetreten, die auf dem Heimweg von der Disco in den Straßengraben gerast sind, die Drogen genommen haben, die unheilbar krank waren, die keinen Ausweg mehr sahen und nicht mehr weiterleben wollten.

Wie geht es Müttern (und Vätern), die, ihr Kind hergeben müssen? Wenn ein Kind stirbt, das ist das schlimmste. So sagen Feuerwehrleute, Polizistinnen, Ärztinnen, Bestatter. Welcher Abgrund tut sich in Müttern, Vätern, Geschwistern auf, denen das passiert?
Manche werden sprachlos, können nicht darüber reden. Oder die Partnerschaft zerbricht, wie bei Arcelia. Manche werden erst durch den Tod zu Alleinerziehenden. In der Bibel ist es die Frau schon vorher. Sie ist eine Witwe, die ihren Sohn verliert. Ihren einzigen.
Ja, die jungen Männer sind am gefährdetsten, auch heute. Oder fällt ihr Tod mehr ins Auge, wird um sie anders getrauert als um Mädchen?
Jedenfalls: Junge Männer verursachen, statistisch gesehen, die meisten tödlichen Verkehrsunfälle; sie schlagen nicht nur schneller zu, sondern haben auch die höchste Wahrscheinlichkeit, angegriffen zu werden, zum Opfer von Gewalt zu werden. Auch die Selbstmordrate ist bei jungen Männern doppelt so hoch wie die junger Frauen.
Gehen Mädchen anders mit sich und mit Bedrohungssituationen um? Richten junge Frauen die Gewalt eher gegen sich selbst, werden depressiv oder magersüchtig, ritzen sich, schlucken Tabletten, landen in Beziehungen, in denen sie eingeschüchtert, geschlagen, vergewaltigt werden?

3. Juli: Damani Henard, 14 Jahre, erschossen am frühen Morgen in Austin, Chicago, auf dem Heimweg
4. Juli: Ernest McMullen, 26 Jahre, Kopfschuss auf der Straße, West Woodlawn, Chicago, um 19.38 Uhr im Krankenhaus für tot erklärt
9. Juli: Ed Cooper, 15 Jahre, um 5.08 Uhr in East Garfield Park, Chicago, in die Brust geschossen, um 5.54 Uhr für tot erklärt
12. Juli: Jeremiah Brown, 27 Jahre, gegen 15.30 Uhr in Marquette Park, Chicago, in die Brust geschossen, um 5.31 Uhr auf der Straße gestorben
14. Juli: Blake Lamb, 22 Jahre, um 15.43 Uhr in Rogers Park, Chicago, in den Kopf geschossen. Er stirbt noch auf der Straße
21. Juli: Marcus Holden, 28 Jahre, während einer Schlägerei von mehreren Schüssen getroffen. East 131 Street, Chicago. Um 3.00 Uhr für tot erklärt
23. Juli. Cory Bridgemen, 29 Jahre alt, wird um 22.20 Uhr in Austin, Chicago, in den Kopf geschossen. Um 2 Uhr für tot erklärt [ taz, 27.7.2013]

Arne, ein User, kommentiert im Internet Arcelias Geschichte: Sie „wiederholt sich auch in Deutschland täglich. Alleinerziehende Mütter, die wegen ihrer Kinder nicht mehr arbeiten können, müssen in Viertel ziehen, in denen die Kinder schnell Kontakt finden zu anderen Kindern, die stark von Gewalt fasziniert sind. Man lernt das Boxen oder andere Arten, sich mit den Händen zu wehren. Recht bald sind die Probleme auch ohne Schußwaffen identisch mit denen dort in Chicago.“

Die alleinerziehende Mutter, hier kommt sie in der Bibel vor. Wer hinschaut, entdeckt viele Lebensformen jenseits von Vater-Mutter-Kind-Beziehungen. Direkt vor unserer Geschichte berichtet das Lukas-Evangelium von einem Mann, der für einen Jungen Verantwortung übernimmt und mit ihm zusammen lebt, ein Offizier in Kapernaum mit seinem Sklaven. Im nächsten Kapitel (Lukas 8, 1-3) lesen wir von drei Frauen, die ohne Mann oder von ihren Männern getrennt leben und sich einer Art Wanderkommune angeschlossen haben, Maria von Magdala, Susanna und Johanna. Im Evangelium vorhin (Johannes 11) haben wir von drei Geschwistern gehört, die sich zu einer Lebensgemeinschaft zusammengetan haben, Maria, Marta und Lazarus.

Bei der Geschichte heute beschäftigen sich die Kommentare meistens mit dem Rechtsstatus der Witwe. Mit ihrem Sohn hat sie zugleich ihren männlichen Rechtsbeistand verloren. Das war sicher existenziell, aber beschreibt den Verlust nicht. Wieviel lebendiger wären Interpretationen, wenn alleinerziehende, verwitwete, geschiedene Mütter diese Geschichte auslegen würden! Sie könnten uns erzählen, was ihre Söhne für sie bedeuten. Erinnerung an den Liebsten. Symbol für eine gestorbene Liebe. Bitterkeit, daß er gegangen ist und sie allein zurückgelassen hat, allein mit der Verantwortung und dem Kind, vielleicht auch mit einem Berg von Schulden und ungelösten Problemen. Tägliche Vergegenwärtigung von Erniedrigung und Demütigung, vielleicht sogar Frucht von Vergewaltigung, und Angst, daß das Kind nach dem Vater kommt und ihrem Einfluß entgleitet. Idealisierung einer vergangenen Beziehung, die vielleicht so golden gar nicht war. Stolz. Hilfe für das angeknackste Selbstbewußtsein. Freund. Blitzableiter.
Kinder von alleinerziehenden Eltern müssen häufig selbständiger sein, übernehmen das Praktische, reden früh mit. Meistens sind sie auch ein bißchen Partnerersatz.

Und nun: dieses Kind ist tot. Nach dem Schlag einer Beziehung, die abgebrochen, zerbrochen ist, der zweite Schlag: Auch noch das Kind ist weg. Jetzt steht sie wirklich mutterseelenallein da.
Kinder in Ein-Eltern-Familien leben manchmal in einer großen Spannung zwischen Vergöttertwerden und Verantwortung übernehmen, für sich und die Mutter. Einzige Hoffnung sein ist nicht leicht. Das kann auch überfordern, da kann das Kind schon mal sterben, das Kind im Kind.

Lk 7,13+14: Jesus sah die Frau, hatte Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: „So weine doch nicht!“ Er trat an die Bahre heran und berührte sie, da blieben die, die sei trugen, stehen. Er sprach. „Junger Mann, ich sage dir: steh auf!“
Jesus sieht zuerst die Mutter. Er merkt, was in ihr vorgeht, was der Sohn für sie bedeutet. Wenn die Mutter aufleben kann, geht es auch dem Kind gut. Hilfe für Kinder beginnt bei den Müttern, den Eltern.

Ich sehe die Schlagzeilen in der Bildzeitung vor mir: „Wunder: Alleinerziehende Mutter schließt toten Sohn in die Arme. Kind wieder lebendig!“
Arcelia und Maria aus Chicago, Mütter von toten Teenagern, verwaiste Eltern, viele haben vergeblich auf solche Wunder gewartet. Es stimmt auch nicht, daß die Zeit alle Wunden heilt.
Aber manchmal geschehen kleine Wunder, ganz leise. Björn Steigers Eltern haben eine Stiftung gegründet. Anderen Kindern soll nicht dasselbe wie ihrem Sohn passieren, daß sie verunglücken und der Krankenwagen kommt einfach zu spät. Heute gibt es an jeder Autobahn Notrufsäulen. Eltern von Sternenkindern gründen eine Selbsthilfegruppe. Und in Chicago setzen sich Leute dafür ein, die Zahl der Schußwaffen zu reduzieren. Einige von ihnen haben selbst ein Kind verloren.

Aufstehen, auferstehen, das ist im Griechischen dasselbe Wort.
Die Geschichte in der Bibel beginnt damit, daß Jesus inmitten einer großen Menge unterwegs war und auf den Trauerzug traf.
„ Dem Zug des Lebens begegnet der Zug des Todes.“ [Wolfgang Wiefel: Das Evangelium nach Lukas. Berlin 1988, 145] Vielleicht können wir diesen Satz umkehren: Dem Zug des Todes begegnet der Zug des Lebens?

Predigt am  16. Sonntag nach Trinitatis

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