Grenzerfahrungen

Und dennoch sind da Mauern zwischen Menschen, und nur durch Gitter sehen wir uns an.  So haben wir eben gesungen. Grenzen sind von Menschen gemacht. Menschen können sie überwinden. „Grenzerfahrung“ lautet das Motto der Friedensdekade 2015. Dabei haben die, die das Thema ausgesucht haben, natürlich an die Flüchtlinge gedacht und an ihre Erfahrungen an den Grenzen, die oft lebensgefährlich sind. Sie machen diese Erfahrungen nicht freiwillig, sondern weil für sie der Druck, die Not oder die Verfolgung so groß geworden sind, daß sie keinen anderen Ausweg sehen.
Grenzen sind keine Naturgesetze. Sie sind von Menschen geschaffen. Zäune, Mauern und Stacheldraht wurden von Staaten errichtet, um Menschen ein- oder auszusperren, von Gruppen gezogen, um ihr Eigentum zu schützen. In Lateinamerika gibt es ganze Stadtviertel für die Reichen, nicht betretbar für die Armen. Grenzen sind von Menschen gemacht und können von Menschen niedergerissen werden.

Vor Grenzen stehen, mit Be-Grenzungen umgehen, Grenzen überwinden, vor dieser Herausforderung stehen Menschen aber auch immer wieder in ihrem Alltag. Das Plakat zeigt einen Riß, der von Klebeband zusammengehalten wird. Die Wirklichkeit hat einen Riß bekommen, sie teilt sich in zwei Seiten, in hüben und drüben. Und manchmal geht der Riß sogar durch mich durch.

Friedensdekade 2015
Friedensdekade 2015

Diese Erfahrung machen Frauen, die ins Frauenhaus gehen. Ein Riß zieht sich durch das Leben. Auf der einen Seite ist der Mann, den sie einmal geliebt hat, und auf der anderen Seite der, wie er ihr jetzt begegnet. Ein Riß zwischen dem Traum vom Familienleben und der Wirklichkeit. Ein Riß zwischen drinnen, der Wohnung, in der Unfrieden und Gewalt regieren, und draußen, der Fassade, die andere sehen. Grenzerfahrung. Drei Frauen, die ins Frauenhaus gezogen sind, und eine Praktikantin berichten darüber.

Kerstin S. **
Mitten in der Nacht kam mein Mann nach Hause. Er war betrunken. Er weckte mich und die Kinder und brüllte so laut, dass auch die Nachbarn munter wurden. Irgendjemand rief die Polizei. Sie nahmen uns mit ins Frauenschutzhaus. Meine Kinder, 1 ½ Jahre und 8 Jahre, waren verstört und völlig übermüdet. Ich war so aufgeregt, daß ich am ganzen Leib zitterte. Die Mitarbeiterinnen brachten die Kinder ins Bett. Dann konnte ich endlich einmal alles erzählen. Das tat gut und ich kam langsam zur Ruhe.
Ich hatte so viele Fragen, so viele Ängste. Die Mitarbeiterinnen begleiteten mich bei den Ämterwegen. Langsam erkannte ich, was ich mir für mein Leben wünschte und mir wurde bewusst, dass ich in der Lage war, mein Leben zu ändern.
Einige Wochen blieb ich im Frauenhaus. Dann habe ich mit meinen Kindern ein eigenständiges Leben in einer neuen Wohnung begonnen.

Lena F.
Es war Sommer, mein Mann hatte mich misshandelt und mich und unsere Tochter vor die Tür gesetzt. Ich rief die Polizei. Gegen Mitternacht brachten sie uns ins Frauenhaus. Ich war mir sicher, dass ich mich von meinem Mann trennen würde.
Am darauffolgenden Wochenende sprach ich mich mit meinem Mann aus. Er bat um Verzeihung, zeigte Reue. Ich glaubte ihm und ging zu ihm zurück. Nach knapp 3 Monaten, es gab immer wieder Streit und Schläge, ging ich erneut ins Frauenhaus. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich trennen wollte. Ich wusste, wenn er etwas gegen sein Alkoholproblem unternehmen würde, dann könnte ich mir ein Leben mit ihm vorstellen. Er erklärte sich bereit, eine Beratungsstelle aufzusuchen, ich zog wieder zuhause ein.
Das Wochenende war von Gewalt geprägt und ich ging wieder zurück ins Frauenhaus. Die Mitarbeiterinnen machten mir keine Vorwürfe. Sie kennen das auch von anderen Frauen, die immer wieder kommen.
Hatte ich Angst vor dem Alleinsein?! Wollte ich meinen Kindern den Vater erhalten?! Ich weiß es heute nicht mehr. Kurz vor Weihnachten, nach 8 Wochen im Frauenhaus, zog ich nach Hause.
Nach etwa ½ Jahr hat er wieder zugeschlagen und die Wohnung demoliert. Dieses Mal stellte ich Strafanzeige. Nach einem zweimonatigen Frauenhausaufenthalt bezog ich mit meinem Kind meine eigene Wohnung. Durch das Kind hatte ich immer wieder Kontakt zu meinem Mann. Er war zur Entgiftung und hatte eine Therapie begonnen.
Nach 3 Monaten zog mein Mann zu mir. Es ging genau 2 Wochen gut, dann hatte er unter Alkoholeinfluss die Wohnungseinrichtung zerschlagen. Wieder stellte ich Strafanzeige. Erst jetzt schaffte ich die Trennung für immer.

Susanne G.
Ich sitze im Wohnzimmer mit meiner Freundin. Wir erzählen und trinken ein Glas Wein. Mein Mann kommt von der Arbeit. Er grüßt mich, starrt mich an und schlägt mich ins Gesicht. Ich blute aus der Nase. Der Schmerz dröhnt, dumpf und pochend.
Mein Mann ist mir plötzlich unheimlich. Warum demütigt er mich so? Wir waren zu diesem Zeitpunkt erst vier Wochen verheiratet. Später entschuldigte er sich und beteuerte, es kommt nie wieder vor. Ich glaubte ihm und suchte die Schuld bei mir.
20 Jahre blieb ich mit ihm zusammen. 20 Jahre, in denen ich immer wieder geschlagen und gedemütigt wurde. Meine Freundin rät mir, ihn zu verlassen.
Aber wo sollte ich hin?! Ich schämte mich vor meiner Mutter. Es war mir peinlich zuzugeben, dass ich einen Schläger geheiratet hatte.
Ich nahm Kontakt zum FSH auf und bereitete heimlich meinen Auszug vor. Meine zwei Söhne waren erwachsen und kamen ohne mich zurecht.
Es war ein schwerer Schritt, dieses neue Leben zu wagen. Aber jetzt fühle ich mich sicher in meiner Wohnung. Es ist ein unglaublich schönes Gefühl, nachts wieder ruhig schlafen zu können. Ich bereue nur, dass ich diesen Schritt nicht schon viel früher gemacht habe.

Praktikantin
Ich bin Studentin an der Hochschule W. und studiere im fünften Semester Gesundheits- und Sozialwesen. Für mein Praktikum habe ich mich für das Frauenhaus- und Kinderschutzhaus Sangerhausen entschieden, weil es ein Ort ist, wo Frauen in akuter Gewaltsituation Zuflucht finden und abgeschirmt sind von ihren Peinigern. Dort finden Frauen und deren Kinder Hilfe und Unterstützung durch qualifizierte Mitarbeiterinnen. Sie werden bestärkt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Bei meinem Praktikum bei der Arbeits- und Bildungsinitiative bekomme ich einen Einblick, wie Frauen mit Gewalterlebnissen umgehen, diese verarbeiten und eine neue Perspektive für sich und Ihre Kinder suchen.
In den Gesprächen mit den Frauen bekomme ich mit, wie schwer es ihnen oft fällt, sich von ihrem Partner zu trennen. Sie haben oft eine lange Odysee an Trennungs- und Zusammenlebensphasen hinter sich, die oft auch zu psychischen Problemen führen.
Ich habe festgestellt, dass es wichtig ist, Menschen in Notlagen zu helfen, besonders Frauen und deren Kindern. Ich danke den beiden Mitarbeiterinnen und der ABI, denn ich habe einen guten Einblick in diesem Bereich bekommen. Deshalb möchte ich auch gern später in dieser Richtung arbeiten.

 

Grenzerfahrung – das ist auch der Schritt ins Frauenhaus. Es ist ein Schritt über eine Grenze, und es kostet Mut, diese Grenze zu überschreiten. Frauen machen ihn nicht freiwillig, sondern weil für sie der Druck so groß geworden ist, daß sie keinen anderen Ausweg sehen. Manchmal brauchen Frauen viele Anläufe.
Grenzerfahrungen sind immer verunsichernd, ein Schritt ins Unbekannte. Werde ich zurechtkommen? Werde ich nicht scheitern? Was werden die anderen sagen? Wie stehe ich vor mir selbst da? Wer eine Grenze überschreitet, nimmt Unsicherheit in Kauf, läßt los, verabschiedet sich von dem, was vertraut ist. Und riskiert, daß andere den Kopf schütteln. Auch die Frauen bringen viel Mut auf, um die Grenze zu überwinden, den Schritt ins Frauenhaus, den Weg zu einem Leben ohne Gewalt und Demütigung.
Grenzerfahrungen machen eigentlich alle, die zu einer Beratungsstelle wie der Arbeits- und Bildungsinitiative kommen: die Leute, die zur Tafel kommen und sich dazu bekennen müssen. Der erste Schritt fällt allen sehr schwer. Die Frauen, die schwanger sind und sich entscheiden müssen, ob sie mit einem Kind leben wollen. In der Familienbildung oder bei der Schuldnerberatung – alle haben mit Grenzerfahrungen zu tun.
Die meisten, die sich gewagt haben, sind hinterher froh darüber. Manche sagen: Warum bin ich nicht schon eher gekommen? Diesen Satz hören die Mitarbeiterinnen im Frauenhaus oder auch in der Tafel immer wieder.
Wer sich über Grenzen wagt, wächst daran, wird selbstbewußter, erfährt Hilfe und Solidarität.

Jesus ermutigt uns, Grenzen zu überschreiten. Er ermutigt uns, daß wir an dem, was nicht mehr hält und das Leben blockiert, nicht mehr klebenbleiben, sondern es loslassen und uns auf neue Wege einlassen.
Und er ermutigt uns, daß wir Grenzen, die Menschen voneinander trennen, gänzlich einreißen, im Leben und auf der Welt.

** Alle Namen geändert

 

Gottesdienst zum Beginn der Friedensdekade am 8.11.2015 mit dem Frauen- und Kinderschutzhaus der Arbeits- und Bildungsinitiative Sangerhausen e.V.


Weitere Predigten in der Friedensdekade
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