Seht, der Träumer kommt daher. Solche Worte können auf dem Schulhof ein Todesurteil sein. Ein Junge, der lieber träumt, als sich mit Kraftausdrücken hervorzutun oder mit Fußballbegeisterung, kann es sehr schwer haben und ist manchmal verdammt allein. Seht, der Träumer kommt daher. Diese Worte bezeichnen tatsächlich einen Todesort. Und sie waren das Todesurteil für Josef in der Bibel. Der zog am liebsten einen Rock an, ein buntes Kleid, als einziger von 12 Brüdern. Seine sonderbaren Träume brachten sie gegen ihn auf. Seht, der Träumer kommt daher, lasst uns sehen, was aus seinen Träumen wird, spotteten sie, als sie beschlossen, ihn für immer zum Schweigen zu bringen, und stürzten ihn in ein Brunnenloch (Gen 37,19f). In Memphis erinnern diese Worte an einen Mord. Eine steinerne Gedenktafel hängt am Balkon des Hotels, in dem der Baptistenpastor Martin Luther King am 4.4.1968 erschossen wurde. Vor ein paar Wochen war sein 50. Todestag.
1964 machte er von Westberlin aus einen unangekündigten Abstecher nach Ostberlin. Vor Tausenden Menschen predigte er in der Marienkirche: „Zu beiden Seiten der Mauer leben Kinder Gottes, und keine von Menschenhand errichtete Grenze kann diese Tatsache auslöschen … Mit diesem Glauben können wir aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung hauen. In diesem Glauben werden wir miteinander arbeiten, miteinander beten, miteinander kämpfen, miteinander leiden, miteinander für die Freiheit aufstehen in der Gewissheit, dass wir eines Tages frei sein werden.“
1963 brachte King beim Marsch auf Washington 250.000 Leute zum Jubeln. Dennoch war unvorstellbar, dass sein Traum einmal Wirklichkeit würde. Die 250.000 waren, auf die gesamten USA bezogen, eine Minderheit. Kirchen, Parkbänke, Schulen, Toiletten und Waschbecken waren und blieben, vor allem im Süden, streng getrennt. Dass Martin Luther King 1964 mit dem Friedenshobelpreis ausgezeichnet wurde, empörte viele US-Amerikaner, ebenso dass er gegen den Vietnamkrieg auftrat, Mindestlöhne und öffentlichen Wohnungsbau forderte oder eine funktionierende Müllabfuhr, also soziale Gerechtigkeit, die auch verarmten Weißen zugute kam. Über dreißig Mal saß er zwischen 1955 und 1968 im Gefängnis. Unzählige Male wurde er zusammengeschlagen, er überlebte drei Bombenattentate. Als Verlierer, als Looser wurde er gegen Ende seines Lebens verspottet und sein Name verballhornt: Martin Looser King. Doch der weiße Scharfschütze konnte seinen Traum nicht auslöschen. Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können … Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.
Träume werden wahr. Das erleben die Menschen in der Pfingstgeschichte. Sie kommen aus verschiedenen Völkern zusammen. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen und verstehen sich trotzdem. Barrieren durch Herkunft oder Prägung oder Kultur spielen keine Rolle mehr. Sie beten zusammen, im übrigen im Tempel, also nach jüdischer Sitte. Sie werden eine Gemeinschaft. Sie teilen miteinander. Sie sorgen für sozialen Ausgleich. Dazu stiftet Gottes Geist sie an und gibt ihnen die Kraft.
Petrus in der Pfingstgeschichte zitiert den Propheten Joel. Joel zählt die auf, denen keine Träume mehr zugetraut werden, die Alten, oder die, die in der damaligen Gesellschaft keine Stimme haben, die Mädchen und Jungen, die Sklavinnen und Sklaven. Wenn sie zu träumen beginnen, ist das ein Zeichen, dass Gott unter den Menschen wirkt. Wenn ihre Vorstellungen Gehör finden, beginnt Pfingsten.
Kinder, Alte, rechtlose Arbeitskräfte – Gott holt sie an den Konferenztisch. Gott ändert die Sitzordnung. Bei der Zukunftswerkstatt haben sie das Sagen. Aus ihren Fragen, ihren Hoffnungen und ihrem Urteil spricht Gottes Geist. So wird Kirche geboren. Die Kirche ist ein Kind von Träumen. Ein Traumkind. Ich habe einen Traum.
Wovon träumen wir heute? Welches Unrecht macht uns wütend? Wo schlägt unser Herz? Es ist wichtig, dass wir der Stimme der Sehnsucht lauschen und unsere Phantasie spielen lassen. Viele Menschen warten darauf, dass wir mit ihnen, manchmal auch für sie hoffen, lieben und kämpfen. Träume verändern die Welt. Unsere Stadt braucht uns. Menschen in ganz anderen Ländern, die wir gar nicht kennen, profitieren davon, wenn wir uns hier engagieren. Seht, der Träumer kommt daher, lasst uns sehen, was aus seinen Träumen wird. Auf den ersten Blick mag es aussehen, als ob es völlig unrealistisch wäre, dass sie einmal wirklich werden, so wie bei Martin Luther King. Aber mit den Träumen fing es auch bei ihm an.
Andere Predigt zu Martin Luther King: in der Friedensdekade am Gründonnerstag (Mahl der Träume)
Weitere Predigten zu Pfingsten
Weitere Predigten in der Trinitatiszeit
Ein Traum von Desmond Tutu, 2006:
„Ich träume davon, dass niemand mehr arm ist. Ich weiß, dass das naiv klingt, aber eine Milliarde Erdenbürger müssen mit einem Dollar am Tag auskommen. Wie soll sich davon eine ganze Familie ernähren?“ „Ich habe einen Traum, und ich glaube, Gott träumt diesen Traum auch. Es ist der Traum von der großen weltweiten Familie, zu der wir alle gehören. Ich gebe zu, das klingt ziemlich schlicht und sentimental. Aber in Wirklichkeit ist es sehr radikal. Was heißt das denn: eine Welt, eine globale Familie? Es heißt, dass es keine Außenseiter gibt. Alle gehören dazu, Schwarze und Weiße, Reiche und Arme, Kluge und weniger Kluge, Schöne und nicht so Schöne, Unversehrte und Behinderte, Frauen und Männer, Schwule, Lesben und Heteros, einfach alle, ohne Ausnahme.“ (Die ZEIT 1/2006)
Träume von Kindern der Welt:
Ich träume davon, Tänzerin zu werden. Anna aus Armenien, 16 Jahre, gehörlos
Ich träume davon, in meine Heimat Syrien zurückzukommen. Hind, Syrien, 11 Jahre
Mein Traum: Eine Universität besuchen. Und Lehrerin werden. Ich möchte meine Mutter unterstützen. Kimberley, 9 Jahre, El Salvador
Ich träume von einer Welt ohne Malaria. Asher Zulu, Simbabwe
Ich träume von richtigen Straßen und Schulwegen. Ich wünsche mir, daß es eine befestigte Straße in unser Dorf gibt. So wäre es viel einfacher für uns, zur Schule zu kommen, und in der Regenzeit würde nicht dauernd meine Kleidung schmutzig werden. Deng, 12 Jahre, Laos
Ich träume davon, dass ihr uns nicht vergesst. Ritchell, Philippinen; der Taifun Haiyan hat 2013 das Haus seiner Familie zerstört.
(Aus: Brigitte, 1.10.2015)