Am 2. November 1989 versammeln sich 4000 Menschen in und vor der Jacobikirche. Sie reden. Am Dienstag darauf ziehen sie aus der Kirche mit Kerzen durch die Stadt. Da sind es 20.000. Keine Gewalt! 30 Jahre ist das jetzt her. Auch heute kommen Menschen friedlich zusammen. Sie demonstrieren, sie reden, sie feiern. Bei Klimaschutzdemonstrationen. Beim Christopher Street Day. Beim Gedenken an die Zerstörung Dresdens im Februar vor der Marienkirche. Bei Gottesdiensten zu Kirchentagen wie in Dortmund.

Viele wollen einfach nur etwas erleben. Sie genießen es, wenn viel los ist. Sie laufen mit, sie rufen, jubeln und tanzen mit den anderen. Für andere ist es befreiend zu sehen: ich bin einmal nicht der einzige, die einzige in der Familie, in der Klasse, im Ort. Andere denken ähnlich wie ich. Ich bin Teil einer großen Gemeinschaft. Wir sind viele. Wir werden sichtbar. Wir können etwas bewirken.
Nicht alle mögen so ein Bad in der Menge. Viele fühlen sich unbehaglich und fürchten, in der Masse unterzugehen. Menschenmassen jagen auch Angst ein. Sie lassen sich manipulieren. Mir fallen Bilder ein von 1933, die Fackelzüge der Nationalsozialisten. Die Reichsparteitage. Oder auch Aufmärsche heute. Die Stimmung heizt sich auf, schlägt um, richtet sich gegen andere. Da sind nicht mehr alle willkommen. Wer aus dem Bild fällt, sieht in abweisende Gesichter. Aus einer Gruppe heraus wird gepöbelt und gerempelt. Ein Plakat mit einem Galgen wird hochgehalten. Wehrlose werden durch die Stadt gejagt. Diese Art von Gemeinschaft will Gleichförmigkeit und schafft Uniformität. Sie beruht auf Abgrenzung. Sie braucht welche, die „anders“ sind, um sie im gleichen Augenblick auszuschließen und um sich aufzuwerten. Alle sollen genauso aussehen, denken, lieben, sprechen, leben. Wer nicht ins Schema paßt, gehört nicht dazu, hat keine Rechte, erfährt im schlimmsten Fall Gewalt.
Zu Pfingsten versammelt sich in Jerusalem eine große Menge. Hier geht es anders zu. Es werden keine Sündenböcke gesucht, keine Schuldigen ausgemacht. Niemand hetzt. Die Menge wird nicht aufgeputscht. Im Gegenteil, alle werden aufgefordert, sich selbst kritisch zu betrachten und das eigene Denken, das eigene Verhalten zu ändern. Am Rand stehen Leute, die offensichtlich nicht zusammengehören und die sich auch untereinander nicht kennen. Die Apostelgeschichte berichtet ausführlich, woher sie alle stammen. Sie verstehen sich nicht, und das ist sicher nicht nur sprachlich gemeint. Sie bringen unterschiedliche Kulturen mit, unterschiedliche Umgangsweisen. Aber diese Versammlung stößt niemanden aus, sondern lädt ein. Sie verstehen, was gemeint ist, und sie verstehen einander. Die Bibel bezeichnet es als eine Wirkung von Gottes Geist.
Das ist das Gegenteil von Populismus. Verdächtigen, Leuten absprechen, dass sie dazugehören, ihnen gleiche Rechte streitig machen und Unfrieden säen, das ist schnell getan. Die Auswirkungen in einer Gesellschaft sind verheerend. Es braucht viel Zeit, Geld und guten Willen, um Gräben wieder zuzuschütten. Demokratie heißt nicht, dass die Stärksten und Lautesten sich durchsetzen und über alle bestimmen. Sondern Demokratie zeichnet sich aus, wie gut die Rechte aller geachtet und geschützt werden, auch derer, die schwach sind oder keine Stimme, keine Lobby haben; und sie braucht uns alle.
Letzte Woche hörte ich von Sonja, einer jungen Frau aus Leipzig, die ein Kind erwartet. Sonja ist in der DDR aufgewachsen, ihr Vater war ein Vertragsarbeiter aus Mozambique. Das ist ihr anzusehen, ihre Haare sind kraus. Jetzt will sie aus Leipzig wegziehen, nach Berlin. Sie hat Angst, dass es ihr Kind in Leipzig schwerhaben wird. Sonja kennt die Frage „Wo kommst du denn her“ seit ihrer Geburt. Aber inzwischen fürchtet sie, dass auch ihr ungeborenes Kind nicht nur schief angesehen, sondern auch angepöbelt und gemobbt wird.
Was ist los in unserem Land, wenn Menschen sogar eine Großstadt wie Leipzig verlassen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen? Wie geht es dann in der Provinz zu, in Kleinstädten wie bei uns, auf dem Land? Ich könnte auch von Studenten aus Lateinamerika berichten, die in Jena studieren und die schon seit Jahren keine Ausflüge mehr nach Chemnitz machen. Oder von jungen Schwulen, die sich nicht in den Zug von Halle nach Sangerhausen setzen. Welcher Ton ist da in unserer Gesellschaft eingezogen? Wie viele Straßen, Stadtviertel, ganze Landkreise gibt es, in die Leute sich nicht mehr trauen, die anders aussehen, lieben oder leben?
Pfingsten fragt uns an, in welchem Geist wir zusammen sind. Welchem Geist lassen wir Raum in unseren Schulen, auf der Arbeit oder in der Nachbarschaft? Auf wessen Kosten reißen wir Witze? Wie sprechen wir übereinander? Wie sehr bemühen wir uns um Respekt? Wie nehmen wir solche Menschen in Schutz und treten für sie ein, über deren Anliegen hinweggegangen wird mit Sätzen wie „Das wird man ja wohl noch sagen können“?
Auch die römische Gesellschaft im 1. Jahrhundert war tief gespalten nach Geschlecht, Klasse und Religion. Sie privilegierte die einen und schloss die anderen aus. Bist du versklavt, bist du eine Frau, gehörst du zur falschen Religion, hast du nichts zu melden. Die Gemeinden damals haben sich bewusst über solche Mauern hinweggesetzt. Das älteste Taufbekenntnis im Galaterbrief erzählt davon. Alle, die ihr in Christus hineingetauft seid, habt Christus angezogen wie ein Kleid. Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, da ist nicht männlich und weiblich, denn alle seid ihr eins in Christus. (aus Galater 3, 26 – 28)
Die Gemeinden haben begonnen, geschwisterlich zu leben – herrschaftsfrei, würden wir heute sagen. Sicher sind diese Versuche nicht immer gelungen. Aber die Bibel erzählt, dass Kirche aus genau diesem Geist geboren ist, und diesen Geist können auch wir heute verbreiten. Unsere Gemeinden können zu Schutzräumen werden, in denen niemand Angst haben muss, ausgelacht zu werden. Sie können zu Laboratorien werden, in denen wir uns damit beschäftigen, wie es zu Gewalt, zu Entrechtung, zu diktatorischen Verhältnissen kommt. Wir können überlegen, wie wir dem rauen Wind entgegentreten können. Unsere Gemeinden können zu Oasen werden, in denen wir uns gegenseitig bestärken, und in denen wir lernen, wie wir argumentieren und auf Vorurteile reagieren können. Gemeinden können zu Pflanzstätten einer offenen Gesellschaft werden, in der wir frei und solidarisch miteinander leben.
Zu Pfingsten erleben Menschen, dass Verbindendes tatsächlich wächst, über alle Begrenzungen von Herkunft und persönlicher Prägung hinweg. Diesmal hat die Masse nichts Bedrohliches und nichts Normierendes. Die Menschen verbünden sich im Geist Gottes. Sie werden frei und verbreiten Freiheit. Am Anfang war es nur eine Handvoll Leute, so wenig wie wir manchmal, oder noch weniger. Aber diese wenigen fangen an zu reden. Sie lassen sich nicht beirren, auch wenn gespottet wird: Ihr seid ja besoffen. Ihr spinnt, ihr faselt realitätsfern, ihr seid Gutmenschen. Doch sie lassen sich nicht entmutigen. Und dieser Geist gewinnt tatsächlich Raum und überzeugt andere. Am Ende haben sich 3000 Leute angeschlossen. Eine Hoffnungsgeschichte, auch für uns. Unsere Stadt, unsere Gesellschaft braucht diesen guten Geist.
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