Lieber Matthäus!
Wenn du nicht gewesen wärst, hätten wir vieles über Jesus nicht erfahren. In der Weihnachtsgeschichte berichtest du uns als einziger von Josef, daß er zweimal träumte. Und dass er nicht darüber lachte, sondern geglaubt hat, dass der Engel wirklich zu ihm sprach. So ist er bei Maria geblieben und später mit ihr und dem Kind vor Herodes geflohen.. Durch dich erfahren wir von dem Stern, und von den Weisen aus dem Morgenland, die ihn entdeckten und ihm folgten. Ohne dich würden wir die Geschichte von den arbeitslosen Tagelöhnern nicht kennen. Manche von ihnen fanden erst am Spätnachmittag eine Beschäftigung im Weinberg, und dennoch zahlte der Besitzer ihnen den vollen Tageslohn aus. So gibst du uns den Anstoß, über Gerechtigkeit heute nachzudenken. Oder der Satz von Jesus, der Menschen seit bald 2000 Jahren zu Werken der Barmherzigkeit angeregt hat, dass sie Hungrige speisen, Gefangene besuchen und Flüchtlinge aufnehmen und der bis heute für die Diakonie so wichtig ist: „Was ihr getan habt einem von diesen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan.“
Dabei hast du Jesus nicht einmal selbst gekannt. Du sollst viel später in Syrien gelebt haben, sagen die meisten. Also nördlich von Palästina. Da habt ihr aus der Nachbarschaft mitbekommen, wie Jerusalem belagert wurde. Und zerstört. Das war im Jahr 70. Flüchtlinge werden verstört und erschüttert berichtet haben. Kurz darauf hast du das Markus-Evangelium kennengelernt. Es ist unter dem Eindruck der Belagerung entstanden. Du hast es sehr aufmerksam gelesen. Und später hast du sehr viel daraus zitiert, als du dein eigenes Evangelium angefangen hast. Das sollte eine Hilfe sein für die Gemeinden bei euch. Hast du deshalb manches weggelassen? Und anderes hereingeschrieben, was außer dir sonst niemand berichtet?

Ich habe dein Bild in der Jacobikirche immer vor Augen. An der Kanzel bist du in Holz geschnitzt, wie du im Sessel sitzt und am Tisch schreibst. Und in dem bunten Glasfenster sehen wir dich auf der Empore. Da bist du gleich der erste der vier Evangelisten, gleich links. Zu deinen Füßen (auf dem Tisch) ist ein kleiner Engel abgebildet, daran kann ich dich von den anderen unterscheiden: Markus mit dem Löwen, Lukas mit dem Stier, Johannes mit dem Adler. Und eben du mit dem Engel.

So haben dich natürlich die Künstler gestaltet. Sie haben wie viele unzählige Menschen dein Evangelium gelesen und Kraft daraus geschöpft. Aber von dir selbst weiß ich wenig, eigentlich gar nichts. Darüber hast du geschwiegen. Freilich, deine Evangelisten-Kollegen haben auch kaum mehr von sich erzählt. Von Lukas wissen wir wenigstens, dass er ein griechischer Arzt war. Aber du? Du hast griechisch gesprochen. Zwischen 70 und 90 ist dein Evangelium entstanden. Du hast Jesus also nur noch vom Erzählen gekannt. Doch was hast du gelernt? Wovon hast du gelebt? Warst du ein jüdischer Schriftgelehrter, vielleicht sogar ein Rabbiner, wie manche Theologen vermuten? Es ist dir jedenfalls anzumerken, dass du gut vertraut bist mit dem Judentum. In deiner Gemeinde wurden sogar die jüdischen Gesetze gehalten, obwohl das in den anderen christlichen Gemeinden nicht üblich war. Die bestanden längst nicht mehr nur aus ehemaligen Juden, sondern aus „Heiden“, wie ihr damals gesagt habt. Das Christentum war eben schon weitergewachsen, in die Welt hinein. Während drumherum sich alles veränderte, wart so etwas wie eine Insel. So sehr, dass jemand mal den Eindruck geäußert hat: „Man denkt unwillkürlich an abgelegene Gegenden, an denen die Entwicklung vorübergeht.“ (Schenke / Fischer 110) Ein Wissenschaftler beurteilt: „Die Kirche zur Zeit des Matthäus ist weltweit und überwiegend heidenchristlich, und Matthäus dürfte das wissen… Aber aus ihr lebt er nicht… Wirklich zu Hause ist er nur in“ seinen Gemeindeverhältnissen. Ihr habt also nach an der jüdischen Tradition festgehalten. Auch wenn ihr nicht mehr hebräisch gesprochen habt – ihr hattet Propheten, Weise und Schriftgelehrte.
Lieber Matthäus, im Abschnitt vorhin hast du für deine Gemeinden erklärt, wie es bei euch zugehen soll. Wie mit Kritik umgegangen wird und davon, dass ihr immer wieder vergeben sollt. Vorher, dass ihr auf die Kleinen und die Kinder achtgeben und die Verlorenen suchen sollt. Die Wissenschaftler bezeichnen das als eine Gemeindeordnung.
Wenn jemand an dir schuldig wird, gehe auf ihn zu und rede mit ihm. Sündigt dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht, zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Erst einmal miteinander sprechen und nicht hintenrum übereinander herziehen. Wie oft wird hinter dem Rücken getuschelt und geredet. Du kennst das anscheinend auch. Es ist verlogen, und in so einem vergifteten Klima fühlt sich niemand wohl. In der Gemeinde soll es anders zugehen. Miteinander reden, nicht übereinander.
Aber was du danach schreibst, lässt es mir kalt den Rücken herunterlaufen. „Nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde. Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide oder Zöllner.“ (16+17) Also: Gespräch unter Zeugen, Zurechtweisung durch die gesamte Gemeinde, Ausschluß. Lieber Matthäus, viel später, in der DDR, hat es ein Schlagwort gegeben: Kritik und Selbstkritik. Das bedeutete, vor den Direktor zitiert werden. Unbekannten Genossen gegenüber sitzen. Abgekanzelt werden. Sich rechtfertigen müssen. Bearbeitet werden, bedrängt und erpreßt: Ich möge doch einsehen, dass meine Denkweise falsch ist. Ich möge doch begreifen, dass die Genossen nur mein Bestes wollen. Ich möge mich korrigieren. Lieber Matthäus, ich bin zwar nicht von der Schule geflogen, aber die Erinnerung graust mich heute noch. Auf diese Weise wurden Menschen erniedrigt, kleingemacht und zerbrochen. Nicht nur in der DDR, auch vorher, unter Hitler, im Kaiserreich, durch die Geschichte hindurch. Als vermeintlich Falschgläubigen, Ungläubigen oder einfach nur weil sie Außenseiter oder Individualisten waren, wurde ihnen das Leben schwer gemacht. ich denke auch an die Inquisition, daran, wie viele Menschen als Ketzer, Hexen, vermeintlich Falschgläubige, Ungläubige, einfach nur als Außenseiter oder Individualisten das Leben schwer oder unmöglich gemacht wurde. Und es war oft dieses Schema, mit dem sie bearbeitet wurden:
Persönliches Gespräch. Gespräch unter Zeugen. Zurechtweisung durch die gesamte Gemeinschaft, Rausschmiß.
Es erschüttert dich jetzt sicher zu hören, dass dabei sogar deine Gemeindeordnung zitiert wurde, genau diese Worte. Nicht genau, höre ich dich einwenden. Zwei Worte sind strittig. Die Worte „an dir“. In manchen Bibelhandschriften heißt es: sündigt dein Bruder an dir. Nicht nur „sündigt dein Bruder.“ Du hast recht. Es ist ein Unterschied, ob zwischen uns etwas vorgefallen ist, sündigt dein Bruder an dir, hat er mich verletzt, mich übergangen, rücksichtslos gewesen, haben wir uns gegenseitig unrecht getan, es betrifft unsere Beziehung. Oder ob ich mich hinstelle, mit dem Finger auf jemanden zeige und mein Urteil fälle: Der da sündigt. Die verhält sich nicht so, wie es meinen Glaubensvorstellungen entspricht, der glaubt oder lebt nicht so, wie ich es für richtig halte.
Das wäre doch wohl ein Alptraum von Gemeinde, wo sich die Leute gegenseitig kontrollieren und der Sünde überführen; ja, es würden wohl am Ende nur die Selbstgerechten und Scheinheiligen übrig bleiben. Und wer das Pech hatte, vielleicht etwas sichtbarer zu sündigen als die anderen, der wäre ruck-zuck draußen.
Und wer definiert eigentlich, was „Sünde“ bedeutet? Hast du es nicht selbst erlebt, wie sich die Zeiten wandeln und mit ihnen auch die Vorstellung davon, was recht und unrecht bedeutet? Wenigstens vom Hörensagen kennst du doch die Debatten auf dem Apostelkonzil in Jerusalem im Jahr 50, als sich Petrus und Paulus so gestritten haben.
Und auch später waren die Kontroversen noch heftig, welchen Kurs die Gemeinden einschlagen innerhalb der römischen Kultur: ob ihr euch öffnet auch für Nichtjuden, für Heiden, auch mit den Speisegeboten, auch mit dem was rein und unrein, erlaubt oder verboten bedeutet. Oder ob die jüdische Tradition für alle Christen verbindlich bleibt. Ihr habt es so beibehalten; viele andere Gemeinden sind einen ganz unterschiedlichen Weg gegangen. Aber beide habt ihr eure Position aus Jesus bezogen, und in ihm wart ihr verbunden, in ihm wart ihr Kirche, in aller Unterschiedlichkeit.
Lieber Matthäus, es ist gut, dass in manchen Handschriften von deinem Evangelium das „an dir“ stehengeblieben ist. Es bewahrt uns davor, dass wir uns gegenseitig richten. So steht es nicht nur bei dir in der Bergpredigt. Wenn ich genau in deiner Gemeindeordnung nachlese, dann fällt mir der Zusammenhang deiner Worte auf. Vorher beschreibst du, wie das verirrte Schaf gesucht wird. Und danach erzählst du die Geschichte, wie Petrus nach der Vergebung fragt: Wie oft muß ich meinem Bruder, der an mir gesündigt hat, vergeben, und Jesus antwortet ihm: nicht sieben mal, sondern siebzigmal siebenmal. Ich glaube, du hast diesen Zusammenhang bewusst gewählt. Wir sollen aufeinander achten und einander vergeben, auch dann, wenn wir etwas zu kritisieren haben. Und Gemeinde bedeutet nicht, daß alle gleich sind und gleich denken. Gemeinde wird lebendig, wenn alle ihre unterschiedlichen Gaben und Perspektiven einbringen. Lieber Matthäus, du würdest staunen, wie sich nach 1900 Jahren die Kirche über die ganze Welt ausgebreitet hat und wie vielfältig sie gewachsen ist. Sie schöpfen Kraft und Impulse aus dem, was du uns von Jesus aufgeschrieben hast.
Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis über Matthäus 18, 21-35
Rekordverschuldung: 10.000 Talente! Land bankrott. Drohen nun Praktiken wie in Alexandria? Solche Sorgen haben Gemeindemitglieder umgetrieben, an die das Matthäusevangelium gerichtet war. Die fiktive „Syrien-Rundschau“ wirft einen Blick auf die sozialgeschichtlichen Hintergründe. Direkt zur pdf: Syrien-Rundschau (A3 quer ausdrucken und auf A 4 falten)
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