O Haupt voll Blut und Wunden: Einar Schleef und Sangerhausen

Karfreitage gibt es auch heute genug. Manchmal schreit die Ungerechtigkeit zum Himmel. Öfter noch wohnt das Leid im Verborgenen, zum Beispiel hinter der Klinkerfassade des Reihenhauses Mogkstraße 24. Hier wächst Einar Schleef (1944 – 2001) auf, der Maler und Theaterregisseur aus Sangerhausen. Ich glaube, seine Kindheit gleicht einem langen Karfreitag.
„… meinem Vater war es manchmal unmöglich, mich zu schlagen, obwohl er mich noch mit 20 schlug, ihm war es wurscht, er drosch und wurde nur so ruhig, ich stand einfach da, bewegte mich nicht vom Fleck, biß nicht meine Zähne zusammen, nein ich tat nichts, ich ertrug ihn, er würde schon erlahmen, so hatte ich Ruhe, der Rohrstock, der Ausklopper sank, ihn schmerzte es zuzuschlagen, keine Kraft mehr, ich war ihm gewachsen, das erlebte ich wie einen Sieg, ich empfand weder Demütigung noch Schmerz.“

Einar Schleef erlebt keine behütete Kindheit in Sangerhausen. Seine Eltern fördern seine Fähigkeiten nicht, im Gegenteil. Der Vater schlägt ihn, noch als Abiturient. Die Mutter Gertrud kontrolliert sein Tagebuch und schreibt ihm mißbilligenden Anmerkungen hinein. Sein Wandbild für den Schulfasching traktiert sie mit dem Schrubber. Sie bietet all ihre Kraft auf, um ein Werk zu zerstören, an dem ihr Sohn tagelang gearbeitet hat.
„Mein Vater gab keine Ruhe, er verbot alles, was ich außer der Schule machte, Bücherlesen, sonst nichts, Malen nein, er zerriß meine Bilder, meistens wenn ich nicht da war, er tobte sich aus, ich ließ das zu, ich war passiv in allem, ich ertrug, ich weinte, auch diese Äußerung sah ich als zu unterdrücken an, keine Regung zu zeigen, einfach innerlich tot zu sein, besser bewegungslos, das beschäftigte mich von da an, ich verbot mir Haltungen, Empfindungen, Unregelmäßigkeiten doch mein Temperament arbeitete dagegen, plötzlich zerriß mein Korsett, es brach auseinander, ich kam nicht mehr zur Ruhe, bis ich irgendwo aufschlug, liegen blieb, aufgeben musste.“

Gewaltsam aufschlagen, das hat er sogar wortwörtlich erlebt. Als Teenager fällt Einar aus einem fahrenden Zug. Ein Trauma, das ihn ein Leben lang begleitet. Häufig schmerzt der Kopf, die Leber bleibt geschädigt. Einar wiederholt zwei Schuljahre und beginnt zu stottern. Er fühlt sich wie ein Fremdkörper – in der sozialistischen Schule, in der Familie, in sich selbst. Kein Wunder, dass Schleef diese Stadt flieht und nach Berlin geht.
Er wird Bühnenbildner und Regisseur. Wo er hinkommt, erregt er Aufsehen. Er krempelt das Theater um. Die Bühne ist meist ein abstrakter Raum mit wenigen Requisiten. Eine Schauspielerin balanciert über die Köpfe der Zuschauer. Schleef holt die Schauspieler von der Bühne herunter und läßt sie durch’s Theater ziehen, die Zuschauer hinterdrein. Vieles ist heute bei Inszenierungen selbstverständlich geworden, etwa das Publikum einzubeziehen. 1975 jedoch lassen die DDR-Behörden sein Stück deshalb sofort nach der Premiere absetzen. Schleef flieht in den Westen, doch Sangerhausen läßt in sein Leben lang nicht los.
„Zuhause, das sind die Eltern, der Vater, die Mutter, der Schulweg, das Kino, die Dörfer, das Gestrüpp, die Stadt, die man sein Leben nicht los wird. Nie mehr zurück, das verwinden, bis man ein eigenes Zuhause hat, das einen erstickt und auffrisst.“

Er bleibt unbehaust sein Leben lang und spürt doch immer deutlicher die Fäden, die ihn mit seiner Heimat verbinden. Im Westen schreibt er ein Buch über Gertrud, die dominierende Mutter. Er setzt Gertrud und der Sangerhäuser Mundart ein literarisches Denkmal. Und auch Sangerhausen selbst: In Westberlin gestaltet er einen riesigen begehbaren Stadtplan. In der Mitte: Sankt Jakobi. Die Kirche hat ihn geprägt. Der Sangerhäuser Maler Wilhelm Schmied, der die Glasfenster hier vorn im Altarraum gestaltet hat, fördert als einer der wenigen den jungen Schleef.

Und hier in der Kirche sammelt er auch die erste Theatererfahrung: „Ich hatte noch nie Theater gesehen, außer Krippenspiele, in denen ich nun mitspielte. Ich stand als Hirt neben dem Altar…“ Hier hört er das Weihnachtsoratorium und die Bachschen Passionen, aus denen er immer wieder zitieren wird. In einem Stück lässt er die Schauspieler als riesigen Chor über die Bühne marschieren und den Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ herausschreien, zerhackt und gequält. Schleef inszeniert den Schmerz – wohl auch seinen eigenen.
Lied EG 85,1: O Haupt, voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn! O Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron! O Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr‘ und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret: Gegrüßet seist Du mir!

„Seht, das ist euer König. Sie aber schrien: Kreuzige ihn.“ Ein König sieht anders aus. Einer mit Dornenkrone und einem Haupt voll Blut und Wunden gehört verspottet und verjagt. Denn Schwäche zu zeigen ist anstößig, so wie bei Einar Schleef. Die Sangerhäuser mögen ihn nicht so recht. Als großen Sohn der Stadt hätten viele wahrscheinlich lieber einen wie Ludwig Güttler, der mit strahlendem Trompetenklang daherkommt. Auf den könnten sie stolz sein.
Einer wie Schleef taugt nicht zum Helden. Er ist eher ein Antiheld, eckt ewig an, stößt die Leute vor den Kopf. Er stottert, das Reden und Zuhören wird zur Qual. Und vor allem schreibt er schonungslos über sein Inneres. Er zeigt seine Wunden und verbirgt sie nicht. Das wird kein schönes, gefälliges Bild zum Vorzeigen. Schwäche stört, denn sie erinnert an die eigene Schwäche. Schleef hat die Fremdheit und das Fremdsein ausgesprochen, das die Menschen in sich tragen und vor dem sie sich fürchten. Er gibt seine Fehlbarkeit preis. Seine Schutzlosigkeit spiegelt die unsere wider. Das macht Angst, denn es macht verletzlich.

Der leidende Christus ist schon in der Bibel ein Ärgernis. Ein geschlagener, sterbender Gott, der sich aller Allmacht entblößt, ist beunruhigend. Insgeheim wünschen sich viele einen Siegergott, auch in der Kirche. Sie möchten aufschauen zu einem Allmächtigen, einem starken Vater, Behüter und Bewahrer. Viele Bilder in der Bibel erzählen davon. Sie sind zu Liedern geworden – ein feste Burg – zu Koppelschlössern: Gott mit uns.
Solche Bilder bieten Halt. Aber sie haben auch mit Macht zu tun, denn sie strukturieren die Welt klar in oben und unten, Gott und Mensch, Gut und Böse. So ordnen sie die Welt und geben Sicherheit. Selbst die, die sich unten wissen, haben einen Platz.
Aber Karfreitag zeigt Gott ein anderes Gesicht. Der gefolterte Jesus hängt am Kreuz. Gott zeigt sich ohnmächtig und in der Tiefe, verletzt und schwach. Karfreitag verläßt uns Gott. Gott entzieht sich den Bildern und läßt uns verunsichert zurück. Kann ich diesen schwachen Gottes annehmen, ihn aushalten, ja auch nur ansehen? Gott blickt uns aus unseren eigenen wunden Augen entgegen.

Kann ich so viel Verletzlichkeit zulassen, in mir, in Gott? Vielleicht würde dann das Jesaja-Wort (53,6) auf ganz andere Weise wahr: Durch seine Wunden sind wir geheilt. Der Fremdkörper findet Heimat. Wir müssen die Wunden nicht mehr verstecken. Wir können sie endlich anschauen, und sie werden heilen. Vielleicht. Aber es ist der einzige Weg. Denn ein ohnmächtiger Gott, nicht der omnipotente, wirkt erlösend. Weil er sich auskennt mit dem Sterben, weil er selbst schwach und zerschlagen war.
Das Leiden und das Blut und der Kelch, in dem sich beides mischt, beschäftigen Schleef jahrelang. Der Wein beim Abendmahl ist für ihn ein Sinnbild von Gemeinschaft und Verrat, von Rausch und Ernüchterung. Als Schleef hier vorne konfirmiert wird, verletzt er sich am Abendmahlskelch. So erzählt er es jedenfalls. Er schlägt sich die Lippen blutig am Kelch mit dem Wein. Sein Blut vermischt sich mit dem im Kelch. Ist das sein Platz in der Passionsgeschichte?

Ob er geahnt hat, daß sein Tod bittereinsam sein würde? Ganz allein – er war herzkrank – geht er vor neun Jahren in Berlin in ein Krankenhaus. Niemand kennt ihn dort. Einar Schleef stirbt, wie er gelebt hat, als Fremder – namenlos, mit 57 Jahren. Sein toter Körper liegt tagelang in der Kühlzelle, bis sich sein Tod herumspricht. Freunde sorgen für die Beisetzung und bringen ihn nach Sangerhausen. Sie begraben ihn mit dem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“.

Zu Karfreitag sorgen die Frauen dafür, daß Jesus nicht namenlos verscharrt wird. Sie begleiten den Sterbenden. Sie kommen, um den toten Körper zu waschen und zu begraben. Mich berührt, daß sie auch dann noch bleiben, wenn schon alles vorbei ist. Der tote Jesus hat in den Augen der Gesellschaft seinen Dienst getan und muß entsorgt werden. Mehr ist er nicht mehr wert. Was oder besser wer nicht mehr brauchbar ist, soll verschwinden. So ist das auch heute mit denen, die auf der Strecke bleiben auf den vielen Wegen nach Golgatha oder sonstwohin. Es geht so schnell, daß Menschen draußen sind. Manchmal erregen ihre Katastrophen noch Aufmerksamkeit. Aber dann läuft das Leben geschäftig weiter, niemand braucht sie mehr. Menschlicher Wohlstandsmüll.
Doch die Frauen unter dem Kreuz kümmern sich. Sie und ihre Söhne und Töchter heute wischen Blut und Tränen ab, sie bergen die Abgestorbenen in ihren Händen. Sie sind die Letzten: Mitarbeitende in Pflegeheimen, in Beratungsstellen, im Obdachlosenasyl, an den Rändern der Gesellschaft. Oft können sie nichts mehr tun, nur das Elend aushalten und beim Abschiednehmen helfen. Und das ist sehr viel, denn sie halten auch die Erinnerung wach und protestieren gegen Leid und Unrecht.

Niemand tut gerne, was die Frauen am Grab taten, Hüterinnen des Todes sein. Doch indem sie helfen, zu Ende zu bringen, geben sie den Gescheiterten einen Rest ihrer Würde wieder. Das Grab, an dem sie am Karfreitag ausharren und zu dem sie zurückkehren, öffnet sich. Die Hüterinnen des Todes sind zugleich Hüterinnen des Lebens. Nach drei Tagen der Trauer werden sie zu Zeuginnen von Ostern. Sie haben dem Tod ins Auge geschaut. Sie sind es, die den Auferstandenen entdecken.

Vielleicht hat Einer Schleef, der das Leiden so thematisiert, etwas Ähnliches erlebt. „Wie oft bin ich in Nürnberg zur Sebalduskirche gelaufen, um draußen hinter Gittern den auferstandenen Christus zu sehen, ich war fast jeden Abend da, manchmal im Dunkeln, nur in der Gewißheit dieses Körpers in Stein hinter dem Gitter. „
Was muß in ihm vorgegangen sein, daß es ihn immer wieder zu dieser einen Skulptur zieht? Welche Anziehungskraft übt der steinerne Leib aus, daß allein die Gewißheit seiner Existenz tröstet? Diesmal ist es der Auferstandene, nicht der Gekreuzigte, den Schleef mit den Augen berührt und umfängt.
Wo finden wir den Auferstandenen, einen Christus, zu dem wir selbst im Dunkeln laufen können? Oder müssen wir erst noch bei dem Gekreuzigten bleiben, sind mit den Wunden noch nicht fertig und dem ohnmächtigen, schwachen Gott? Es ist ja erst Karfreitag. Ostern kommt später. Amen.
Lied EG 85,6+7

Rundfunkgottesdienst am 2.4.2010 (Karfreitag)

Predigten zwischen Palmsonntag und Quasimodogeniti: hier
Weitere Predigten in der Passions- und Vorpassionszeit: hier
Predigten im Jahreslauf: hier

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