Die Legende von Barbara ist schnell erzählt, von Dioskurus, ihrem Vater, und Diotyma, ihrer christlichen Dienerin.
[Hier könnte die Barbara-Legende erzählt werden:
Es war einmal ein reicher und einflussreicher Mann, Dioskurus von Nikomedien. Der hatte eine wunderschöne Tochter namens Barbara. Barbara war das schönste Mädchen unter der Sonne, sie war ihres Vaters Freude und ganzer Stolz. Alle Bewerber, die um ihre Hand anhielten, ließ er abweisen.
Es begab sich nun, dass Dioskurus auf Reisen gehen wollte. Damit seine Tochter während dieser Zeit in Sicherheit wohnen konnte, ließ er für sie einen dicken großen Turm mit dicken Wänden errichten. Er sollte Barbara vor jeder Gefahr schützen. Der Turm wurde prächtig ausgestattet, und am Ende wurden die Vorräte hereingetragen für eine lange, lange Zeit. Barbara sollte es an nichts fehlen in diesem Turm. Eigenhändig führte der Vater die Tochter hinein und nahm Abschied. Nur eine Dienerin und Lehrerin wurde ihr zur Gesellschaft mitgegeben. Dann wurde die Tür von außen zugemauert, und der Vater zog von dannen. Nur 2 Fenster ließen etwas Licht in den dunklen Turm fallen.
Es hätte eine gute Zeit sein können, denn es mangelte Barbara an nichts. Doch sie konnte nicht froh werden in diesem dunklen Turm. Denn sie war ja eingesperrt. Der Turm war weniger Schutz als vielmehr ein Gefängnis. Im Grunde hatte der Vater Angst, dass Barbara ihm weggenommen werden könnte. Dass sie am Ende nicht mehr jenes Mädchen ist, wie er es kannte und wollte. Was, wenn Barbara am Ende eine andere ist, eine ihm fremde, mit Seiten, die er an ihr nicht kannte, mit einem Gesicht, in dem sich Eigenes und Neues zeigt und mit dem sie ihm die Stirn bieten kann. Was, wenn seine Tochter am Ende ihre eigenen Wege geht und nicht nur in den Fußtapfen geht, die er ihr vorgezeichnet hat. Ich glaube, davor hat sich der Vater im letzten Grunde gefürchtet. Es ist die verborgene Angst von Eltern, dass die Kinder auf einmal groß und fremd werden, anders reden, anders denken, andere Werte für wichtig halten, als sie das bei den Eltern kennengelernt haben. Und mit Leuten zusammen sind, die ganz und gar nicht zu ihnen zu passen scheinen. Da komme als Mutter, als Vater erst einmal klar. Natürlich versuchen das die allermeisten Eltern, und meistens schaffen sie es auch – aber Angst davor haben alle, denke ich.
Auch Barbaras Vater hatte Angst. Doch seine Angst war so riesig, dass er davonlief und seine Tochter einfach wegsperrte. Er reiste weg und ließ sie einmauern. Seine süße Barbara sollte so bleiben, wie er sie verlassen hatte und wie er sie kannte. All das, wovor er Angst hatte, konnte der Turm verhindern: Sie hatte keinen Kontakt nach außen, zu Freundinnen, mit denen sie sich besprechen und eigene Pläne schmieden könnte. Sie konnte sich nicht mit anderen Mädchen vergleichen und daraus Mut gewinnen. Und vor allem kein Mann konnte in ihre Welt eindringen, sie konnte keine eigenen Erfahrungen machen. Der Vater hatte ihr den Horizont vermauert, sie steckte in den Grenzen fest, die ihr Vater ihr gesetzt hatte. Zu deinem Besten.
Heute errichtet kein Vater mehr Türme aus richtigen Steinen um seine Tochter. Aber dass Kinder so sein müssen, wie es sich die Eltern vorstellen und wünschen, das gibt es heute sehr wohl . Und weggesperrt, weggeschlossen werden Mädchen auch noch. Und hinter der Wohnungstür empfängt viele Kinder leider nicht der Schoß der Familie, sondern der Vorhof der Hölle.
Barbara sitzt im Goldenen Käfig. Von ihr dringt nun auch kein Lebenszeichen, keine Regung mehr nach außen. Die Mauern sind zu dick. Obwohl sie mitten im Land, unter Leuten lebt – der Turm steht ja im Land – , ist es, als wäre sie weit weg. Nichts dringt zu ihr hinein, nichts kommt zurück. Dieses Gefühl kennen Menschen heute auch: Ich bin wie vermauert, wie eingesperrt. Und obwohl sie mitten in der Familie, mitten unter Leuten sind, ist es, als wären sie weit weg. Kein Gefühl dringt durch diese Mauer, jede Regung prallt ab.
Aber das Leben lässt sich nicht einsperren. Barbara hört im Gefängnis von Jesus. Sie hört von dem Reich, das voller Licht und Freude ist für alle Menschen, die traurig und im Dunkel leben. Sie liest in der Bibel. Noch im Turm lässt sie sich taufen. Als Zeichen für die Dreieinigkeit Gottes lässt sie ein drittes Fenster zu den beiden anderen brechen. Mit ihrer eigenen Hand drückt sie ein Kreuz in den noch feuchten Putz. Für sie ist Advent. Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. (Lk 21,21, Wochenspruch)
Was der Vater verhindern wollte, genau dazu ist es gekommen. Barbara ist jenem Leben auf die Spur gekommen, das größer und heller und weiter ist. Sie hat das Leben entdeckt jenseits der Grenzen, die ihr Vater ihr gesetzt hatte. Das Vorbild von Jesus hat Barbara geholfen, frei zu werden, frei und groß und sie selbst. Es hat ihr geholfen, über sich und über das hinauszuwachsen, was der Vater gerne in seiner Tochter sehen wollte. Jesus hat ihr beigestanden, diese Fesseln abzuwerfen und ein eigener Mensch, eine eigene Frau zu werden. Dazu macht Jesus Menschen stark, damals und heute. Übrigens: Barbara bricht die Mauern selbst auf, von innen. Kein Befreier von außen ist gekommen, der sie herausholt, sondern ihr wachsen die Kräfte zu, es selbst zu tun.
Ihr Vater raste, als er zurückkam und sah, dass sie Christin geworden ist. Die Legenden malen aus, wie schrecklich er gewütet und wie er sie hat peinigen und martern lassen. Im Gefängnis noch soll sie das Abendmahl empfangen haben. Ihr Vater veranlasste, daß über Barbara das Todesurteil gesprochen wurde. Aber niemand wollte gegen sie das Schwert erheben. Da setzte der Vater selbst seinem Kind den letzten Streich. In dem Moment ging ein Blitz nieder vom Himmel und schmetterte ihn zur Erde. Dioskurus war tot.]
Barbara war eine der beliebtesten Heiligen und gehört auch zu den 14 Nothelfern. Oft wird sie mit einem Turm dargestellt. Auf unserem Altar ist sie mit dem Kelch zu sehen. Und auch wir feiern heute Abendmahl.
Ihre Gestalt ist eine komplette Legende. Doch es muß einen Grund geben, warum sich die Menschen eine solche Geschichte erzählt haben und warum sie ihr Kelch und Turm zugeordnet haben.
Zunächst der Turm: er steht für ihr Gefängnis, in dem sie eingesperrt war. Es sind die dicken Mauern, die sie zu durchdringen suchte – und tatsächlich durchdrungen hat. Ich denke an die Zwingburgen des Mittelalters mit ihren Verliesen und Kerkern. Ich denke aber auch an das, was uns einengt. Das können Ängste sein, die Erwartungen der Umwelt, sozialer Druck, Sucht, die Haut, aus der wir nicht heraus können. In anderen Ländern würden Menschen von Unfreiheit und Terror erzählen, von Armut und Ohnmacht, vom Raub des Rechts und des Eigentums.
Ein Kelch dagegen ist etwas Offenes. Wenn wir uns emporstrecken und die Arme ausbreiten, bilden wir mit unserem Körper seine ab, wir werden selbst zum Kelch. Er ist ein Gefäß, eine Schale, die aufnimmt, die sammelt und gibt. Er ist ein Gefäß, in den hineinfließt und herausströmt. Kelch des Leidens und Kelch des Heils und des Segens zugleich. Aus dem Kelch empfangen wir das Abendmahl. Er ist offen und er verbindet uns. Die Menschen im Mittelalter auf der Neuenburg hätten wohl auch an den Gral gedacht, den heiligen Gral mit dem Blut Jesu, deren Hüterin Barbara sein könnte.
Auch unser Becken ist wie ein Kelch geformt. Und hier sitzt das Zentrum unserer Kraft und unserer Person. Von hier – und eben nicht vom Kopf – gehen alle Bewegungen aus. Von hier aus steuern wir uns, von dem aus, was unser Bauch sagt, was aus dem Bauch kommt.
Der Schoß ist die Quelle des Lebens, aus der jeder Mensch geboren wird und in dem auch Gott Gestalt nimmt. Hier beginnt Gott zu keimen und zu wachsen, hier kommt Gott auf die Erde.
Barbara, die Eingesperrte, trägt den Kelch als Symbol. Sie lässt es nicht zu, daß die Enge des Turms sie selbst eng macht. Das, was sie einsperrt, dominiert nicht ihre Seele. Das Öffnende, das Offene wird ihr Zeichen. Sie erstarrt nicht, sondern wird zum Gefäß des Lebens.
Gelingt uns das auch?
Wir warten darauf.
Wir warten auf Gott, der in unsere Gefängnisse kommt und die Mauern durchbricht. Wir warten auf Gott, der uns selbst weit und offen macht. Wir warten auf Gott, der tief in unser Inneres kommt und in uns, aus uns geboren wird. Wir trinken nachher wie Barbara aus dem Kelch, wir öffnen uns, daß wir – buchstäblich – Gott empfangen.
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