Kirche in der Stadt

Im September war unser Pfarrkonvent in Berlin zur Weiterbildung „Kirche in der säkularen Gesellschaft“. Wir waren zu Besuch bei Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein, die in unserem Kirchenblättchen von August / September 2018 auf der Titelseite abgebildet war (jacobigemeinde-sangerhausen.de). Kirche in Berlin – das sind 15 % Evangelische, doch es schwankt stark. 24 % sind es in Charlottenburg-Wilmersdorf, kaum mehr als 7 % in östlichen Bezirken Marzahn, Hellersdorf oder  Lichtenberg. Kirche bewegt sich – genau wie bei uns – in einem säkularen Umfeld, für das Religion eine geringe Rolle spielt.
Und dann hat Ulrike Trautwein erzählt, was Kirche in Berlin alles macht: Gemeinden sind bei Nachbarschaftsinitiativen dabei, unterstützen Stolperstein-Initiativen, bringen sich an Erinnerungsorten ein, unterhalten ein Friedenszentrum im ehemaligen Pfarrhaus von Martin Niemöller in Dahlem.

Turm der Jacobikirche

In vielen Kirchen geben Ehrenamtliche bei Zweigstellen von „Laib und Seele“ Lebensmittel aus. Jeden Winter öffnen Kirchen ihre Türen für Obdachlose, die Berliner Kältehilfe. Im Oktober 2015 öffnete die Simeon-Kirche in Kreuzberg als Flüchtlingskirche. Die Matthäikirche gegenüber dem Kunstforum beim Potsdamer Platz wurde zur Kunstkirche umgestaltet. Sie bringt sich in die Kunstszene ein, es gibt Ausstellungen und Vorträge. Beim Christopher-Street-Day fährt und feiert der Ev. Kirchenkreis Berlin-Mitte seit 2017 mit einem eigenen Truck mit: „Trau dich“ warb der Truck für die Trauung für alle.
Der Kirchenkreis hat sich eine Kampagne ausgedacht. Der Kirchenkreis verteilte zu Weihnachten 2017 30.000 Postkarten mit Liebesbotschaften: Liebe tut der Seele gut. Am Berliner Dom und an vielen Kirchen hingen große Banner: „Hass schadet der Seele“ „Rassismus schadet der Seele“, „Homophobie schadet der Seele“ oder „Rechtspopulismus schadet der Seele“. Die Plakate waren in allen christlichen Kitas, Schulen und Gemeindezentren zu sehen.
Evangelische Kirchen mischen auch beim christlich-islamischen Dialog mit. Die Petri-Mariengemeinde initiiert das „House of one“ mit, drei Religionen in einem Haus. Es wird gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde und einer islamischen Dialoginitiative gebaut und 2019 eröffnet.

Was uns Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein in einer dreiviertel Stunde erzählt  hat, war mit Sicherheit nur ein kleiner Ausschnitt von dem, wo Kirchen sich in der Öffentlichkeit einbringen. Kirche geht dorthin, wo Menschen sind, und macht mit. Ehrenamtliche oder Hauptamtliche sitzt bei Netzwerktreffen am Tisch. Sie spielen keine Sonderrollen, sondern sind einfach da. Sie fragen auch nicht „Bekommen wir dadurch neue Gemeindemitglieder“, sondern sie setzen sich ein, wo es für das Gemeinwesen wichtig ist. Sie engagieren sich für die Menschen, für und mit Anwohner*innen und Geflüchteten, Alteingesessenen und Zugezogenen.
„Suchet der Stadt Bestes“ (Jeremia 29.7). Diese Einstellung leben die Gemeinden in Berlin.

Jeremia hat diesen Satz jüdischen Menschen mitgegeben, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie wurden 587 v.u.Z. nach Babylonien verschleppt und mussten dort einen neuen Anfang wagen . Das war eigentlich Aufgabe genug: sich in einer ungewohnten Umgebung zurechtfinden, mit anderer Sprache, anderen Sitten, anderen Gerüchen, anderem Essen, anderen Verwaltungsvorschriften und anderen Glaubensvorstellungen. Das alles war ja fremd und neu. Manche waren sicher traumatisiert. Menschen verschlägt es aus der Heimat in die weite Welt, ob im 19. Jahrhundert nach Amerika, nach dem 2. Weltkrieg bei uns oder heute aus Syrien, ob freiwillig oder unfreiwillig. Sie alle sind froh, wenn sie nicht allein sind. Auch diesen jüdischen Menschen in Babylonien ging es so. Da wird die eigene Community zum Netzwerk und Nest. Hier helfen sie sich gegenseitig weiter.
Die Sehnsucht und die Träume aber gehen immer wieder zurück in die Vergangenheit. Das Land der Kindheit wird zum Traumland, auch wenn nicht immer alles traumhaft war. Aber es war gewohnt und vertraut. Wie schmeckt es zuhause, wie riecht es zuhause, wie klingen die Worte, welche Lieder fallen mir ein. Die neuen Lieder hier sind unbekannt. Wenn die Sehnsucht mich immer wieder in die Vergangenheit lockt, verliere ich den Blick dafür, was hier schön sein kann, und ich vergesse, nach vorne zu träumen, von morgen, von der Zukunft, von dem, was werden kann.
Baut Häuser und wohnt darin, gründet Familien, legt Gärten an, genießt die Früchte, rät Jeremia. Sperrt euch nicht selbst in einen Käfig voller Vergangenheit, sondern gestaltet euer Leben da, wo ihr seid. Und: bringt euch ein in die Gesellschaft, so fremd sie euch auch ist. „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie, denn wenn es ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl.“ Das liest sich wie ein Rezept für gelingende Integration, damals, nach 1945, heute.

Dieser Satz ist Christ*innen in der DDR wichtig geworden, als sie immer wieder gefragt wurden, wie sie es mit dem Sozialismus halten. Der Staat verlangte Kniefälle und hatte mit Religion so gar nichts am Hut, sondern verkündete, daß sie Relikt vergangener Zeiten sei. Und die Kirchen haben ja tatsächlich lange zurückgeblickt auf die vergangenen Zeiten, in denen Kirche und Staat fest Hand in Hand gingen. Sie haben dem Machtverlust nachgetrauert.
„Suchet der Stadt Bestes“ wurde ein Weg, sich nicht der Ideologie des Sozialismus zu beugen, aber sich trotzdem einzubringen und die DDR-Gesellschaft mitzugestalten, wenn auch oft nicht im Sinne der Oberen. Und es war ein Argument, mit dem Staat über kritische Themen ins Gespräch zu kommen. Wir sind gemeinsam verantwortlich für die Menschen, die hier leben, wenn es z.B. um die Luftverschmutzung im Winter ging, die Qualmwolken aus den Schornsteinen, von denen die Babys Husten bekamen, die Chemieabwässer in der Saale. Der Satz des Propheten Jeremia hat Christ*innen Kraft gegeben, sich nicht zurückzuziehen, zu resignieren oder diesen Staat den Bach heruntergehen zu lassen. Wir sind gemeinsam verantwortlich für dieses Land und deshalb mischen wir uns ein.

Suchet der Stadt Bestes – könnte dieser Satz auch eine Leitlinie für unsere beiden evangelischen Gemeinden in Sangerhausen sein? Gottesdienste feiern oder in Gruppen beten, ohne dass dabei eine Rolle spielt, was in dieser Stadt  passiert – das geht nicht. Da würden wir immer weltfremder. Dann hätten wir für die Menschen, die hier leben, keine Relevanz mehr. Da könnten wir vom Glauben soviel reden, wie wir wollten – es würde bald kaum jemanden mehr interessieren.
Der Sachsen-Anhalt-Tag 2016 hat gezeigt, wie wir in Sangerhausen vernetzt sind mit der Stadt: Musikschule, andere Chöre, „Sangerhausen bleibt bunt“, Stolpersteine, Gedenken an die Zerstörung Dresdens im Februar,  Geschichtsverein, Presse. Als Gemeinden sind wir schon auf ganz gutem Weg. Wenn wir in Gremien sitzen, dann ist das wesentlicher Bestandteil von Gemeindearbeit.

Suchet der Stadt Bestes. Das können wir vom jüdischen Propheten Jeremia und seinen Glaubensgeschwistern lernen. In Mitteleuropa war die jüdische Bevölkerung meistens eine Minderheit. Die christliche Mehrheit hat sie oft bedrängt, ist ihnen mit Vorurteilen begegnet und hat sie ausgegrenzt. Sie mussten sich rechtfertigen für ihren Glauben. Trotzdem haben viele Jüdinnen und Juden die Worte von Jeremia sehr ernst genommen und beherzigt. Ich möchte besonders an die jüdische Ärzt*innen und Heilkundigen erinnern. Sie waren sehr begehrt. Sie haben jüdische wie christliche Patient*nnen mit großer Fachkunde behandelt, besser oft als die christlichen. Sie haben uneigennützig geholfen, ohne Ansehen der Person. Sie sind der christlichen Mehrheit nicht mit Hass begegnet, sondern haben sie profitieren lassen von ihrem Wissen und ihrer Erfahrung.

Mit Vergebungsbereitschaft und Weisheit haben jüdische Menschen Christ*innen vorgelebt, was der Ratschlag aus der Bibel, der Ratschlag ihres jüdischen Propheten, bedeuten kann. In Berlin sehen wir, wie es heute in einer Metropole gehen könnte. Unseren Weg in unserer Stadt müssen wir in Sangerhausen selbst finden. Suchet der Stadt Bestes, darin bestärke uns Gott.

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis über Jeremia 29, 1.4-7.10-14

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