Lazarus – die Armen werden sichtbar

Armut ist nicht sichtbar. Die Frau, die auf der Bank vor der Jacobikirche die Sonnenstrahlen genießt, hat sich sorgfältig geschminkt. Niemand soll auf die Idee kommen, daß sie sich am Ende des Monats bei der Tafel anstellen wird, weil das Geld nicht mehr für das Essen reicht. Auch Reisegruppen werden eher die Schokoladenseiten eines Landes vorgeführt. Die Einkaufsstraßen sind fein herausgeputzt, Sehenswürdigkeiten liegen selten in den staubigen Vorstädten voller Geröll. Armut ist nicht sichtbar, auch wenn sie vor unser aller Augen liegt. Denn wir haben gelernt, sie zu übersehen. Sie ist peinlich. Arm will niemand sein. Die Armen verbergen sie sorgfältig. Die Kinder werden mit neuester Technik ausgestattet, damit sie in der Schule nicht ausgelacht werden.
Arm sein gilt als Makel. Ich bin arm dran, schwingt da mit. Ich habe es nicht geschafft. Ich bin arm – wer das von sich sagt, hat entweder nicht mehr zu verlieren und  hat sich selbst aufgegeben. Oder es ist ein Protest.
Da prallen Welten aufeinander. Leute, die nicht wissen wohin mit ihrem Geld, und andere, die mit Hartz IV gerade so über die Runden kommen. Der reiche Norden und der Globale Süden.

Jesus macht die Kluft zwischen diesen Welten sichtbar: der reiche Mann und der arme Lazarus. So wird die Geschichte meistens überschrieben. Der Arme hat kein Obdach und haust vor der Haustür, zusammen mit seinen Hunden, und der Reiche wird ihn in all den Jahren vielleicht nicht einmal  bemerkt haben.
Die Ungleichheit zieht sich bis über den Tod hinaus. Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. (16,22) Vom Begräbnis des Reichen wird berichtet. Bei Lazarus wird es nicht erwähnt. Ist das wirklich Zufall? Ich glaube eher, dass es für Lazarus tatsächlich keine Bestattung gab. Er war arm, krank, hatte nur sich und seine Hunde, so wie viele Obdachlose heute. Wer hätte ihn begraben sollen? Und wovon? In Indien wurden letztens im Ganges viele Tote angespült. Es wird vermutet, dass ihre Angehörigen zu arm waren, um sie zu verbrennen, wie es Sitte gewesen wäre.

Ein Riß geht durch die Gesellschaft. Jesus macht ihn deutlich. Er kaschiert ihn nicht. Und er macht deutlich, was bei Gott zählt. Lazarus sitzt in Abrahams Schoß. Der Reiche kommt in die Hölle.
Jesus macht die Armen sichtbar. Er ist selbst Teil dieser Welt. Er sagt von sich selbst, dass er nichts hat, wo er abends sein Haupt betten kann. Die Evangelien berichten, dass er hungrig war, oder erzählen von seinem Zorn, dass die Feigen am Baum noch unreif waren.

Interessanterweise wird dem Reichen keine einzelne verwerfliche Tat zur Last gelegt oder daß er besonders grausam oder niederträchtig gewesen wäre, um in die Hölle zu kommen. Allein die Tatsache, daß er reich war, ist für Jesus offensichtlich Begründung genug. Der Reichtum als solcher ist das Unrecht.

Reichtum kommt nicht von selbst zustande. Die Millionen und Milliarden werden auch heute in der Oberschicht weitergegeben und vererbt. Der Reichtum der einen beruht auf der Verarmung der anderen. Auch bei uns schützen und begünstigen die Gesetze eher das Eigentum als die Belange der Gemeinschaft. Sogar in der Pandemie haben die Vermögen der Wohlhabenden an Wert gewonnen, während Millionen von Menschen auf der ganzen Welt ihre Lebensgrundlagen verloren haben. Es ist das strukturelle Unrecht, an dem der Reiche teilhat. Ihm wird keine einzelne schlechte Tat vorgeworfen, sondern er ist Teil eines Unrechtssystems, das ihn zum Begünstigen macht auf Kosten der Armen.
Der Reiche bittet Abraham, er möge Lazarus in meines Vaters Haus [senden]; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen. (16,27f.) Es überrascht nicht, dass der Reiche in dieser Geschichte Teil einer verzweigten Oberschichtfamilie ist, deren Mitglieder – allesamt Männer – sich gegenseitig protegieren. Bezeichnenderweise haben Frauen darin so wenig zu sagen, dass sie nicht einmal erwähnt werden.

Auch wenn der Reiche an Abraham appelliert, denkt er nur an sich, an seine eigene Familie. Er verwendet keinen Gedanken an die Armen und ihre Situation. Er zeigt immer noch kein Mitleid für die, die wie Lazarus vor den Türen sitzen. Selbst in der Hölle hat der Reiche nichts dazugelernt.
Die Geschichte von Lazarus gehört zu den bekanntesten des Neuen Testaments, und sie wurde oft mißbraucht, um die Armen zu vertrösten und zu beschwichtigen. Sie sollten sich nur auf Erden gedulden und mit ihrem Los abfinden, im Himmel würden sie belohnt. Doch die Botschaft der Bibel ist eine andere. Abraham verweist den Reichen auf Mose und die Propheten. Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. (16,29) Für Jesus ist also klar, wovon die Bibel erzählt: sie tritt für Gerechtigkeit ein. Sie fordert Gerechtigkeit ein, bringt Witwen, Waisen, Fremde ans Licht. Sie zu mißachten ist Sünde. In dieser Geschichte kommen eben nicht alle in den Himmel. Der Himmel steht bei Jesus den Armen offen.

Im Fernsehen präsentieren sich die Reichen und Schönen im Rampenlicht, ihre Namen wandern um die Welt. Die Namen der Armen kennt niemand – weder die der ausgelagerten Putzkräfte in schicken Bürohochhäusern noch die der afrikanischen Einwanderer, die in Spanien die Tomatenfelder für den europäischen Markt abernten. Sie verschwinden in einer namenlosen Menge und bleiben für uns meistens ohne Gesicht.

Bei Jesus ist es genau umgekehrt. Der Reiche bleibt namenlos. Der Arme bekommt einen Namen. Lazarus. Auf Engelsflügeln wird er in Abrahams Schoß getragen. Sein Leben lang galt er als Nichts. Bei Jesus bekommen Lazarus und seine Geschwister einen Namen und ein Gesicht.

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis über Lukas 16, 19-31
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Lukas 16, 19 Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. 20 Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren 21 und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre. 22 Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. 23 Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. 24 Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen. 25 Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt. 26 Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. 27 Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; 28 denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. 29 Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. 30 Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. 31 Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

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