Konferenz im Himmel

Wie in jedem Jahr zu Weihnachten ließen sich die beiden Erzengel Bericht erstatten, wie die Menschen auf der Erde das Geburtstagsfest des Jesus-Kindes feiern. Freuten sich die Kinder? War Frieden auf der Erde eingezogen, wenigstens für ein paar Tage? Doch die Nachrichten, die 2021 zum Himmel drangen, verwirrten sie. Pandemie, auf der ganzen Erde, was ist denn das, erkundigte sich Gabriel.  Und haben sie wirklich noch keine Medizin dagegen erfunden, bohrte Raphael weiter.
Einer der Boten schüttelte betreten den Kopf. Ein winziges Engelchen mit zerzaustem Kopf drängelte sich vor. Sie haben aber eine Impfung, krähte es. Da lassen sich jetzt alle impfen, sinnierte Gabriel. Das Zausköpfchen nickte eifrig und plapperte: In langen Schlangen stellen sie sich an. Doch der andere Bote schubste es zur Seite. Nein, sie protestieren dagegen, widersprach er. Was denn nun, lassen sie sich impfen oder nicht?  Raphael und Gabriel wurden daraus nicht schlau. Sie beschlossen, das Thema vorerst ruhen zu lassen.

Weitere Meldungen, klopfte Gabriel auf den Tisch. Der Stationsengel trat vor. Die anderen nannten ihn so, weil er – oder besser sie – medizinisch gebildet und daher für die Krankenhäuser, Heime und Intensivstationen zuständig war. Also alles, was mit Stationen in Zusammenhang stand. Der Stationsengel beschwerte sich: Ich wurde gar nicht ins Krankenhaus gelassen. Alles voll, hieß es an der Pforte. Besuchsverbot. Und Urlaubsverbot für das Personal.

Das wollte Gabriel nicht gelten lassen. Außerdem witterte er Ungereimtheiten. Normalerweise wurden die Kranken zu Weihnachten entlassen, jedenfalls die leichteren Fälle. Wieso waren jetzt die Krankenhäuser voll? Das muss sofort untersucht werden, beschied er. Die Turbo-Engel bitte. Ein Lagebericht von der Erde, just in time. Die Sitzung ist so lange unterbrochen.

Die anderen Engel rollten ungeduldig mit den Augen. Schließlich hatten sie bis zum Heiligabend noch eine ganze Menge zu erledigen. Doch die Turbo-Engel brauchten wirklich nicht lange und flogen einer nach dem anderen wieder ein. Keine Luft, japste der erste. Das sehe ich, nickte Raphael mitleidig. Nein, korrigierte der Turbo-Engel. Die Kranken. Sie kriegen keine Luft. Sie hängen an Maschinen, durch die sie frische Luft bekommen. Die anderen Turbo-Engel setzten fort: Die Stationen sind voll. Kein Bett mehr frei. Oder wie damals in Betlehem: Kein Raum in der Herberge. Die Sorgenfalten auf den Gesichtern der Erzengel wurden immer tiefer.  Als ein Turbo-Engel die Hubschrauber beschrieb, mit denen sie Kranke durchs Land flogen, dorthin, wo noch ein Platz frei war, schlug Raphael mit der Faust auf den Tisch. Wir müssen helfen. Sofort. Alles, was Flügel hat, fliegt hoch in die Luft!

Das waren hier alle im Himmelssaal. Die Engel hatten es oft gespielt und begriffen nicht gleich, was Raphael meinte. Er half ihnen auf die Sprünge. Fliegen. Das ist das, was wir können. Wir helfen den Hubschraubern. Wir fliegen mit und geben ihnen Aufwind, damit sie schneller ans Ziel kommen. Sowie ich verstanden habe, drängt die Zeit.

Die meisten Engel nickten eifrig und raschelten schon mit ihren Flügeln. Aber Raphael rief  sie zur Ordnung. Wir sind noch nicht fertig. Der Kinderengel war noch nicht dran. Ein zarter Engel mit durchsichtigen Flügeln konnte nur leise reden. Seine Stimme zitterte ein wenig. Die Kinder, setzte er an, also einige Kinder – sie sind jetzt allein. Die Engel hörten auf zu tuscheln. Erst jetzt bemerkten sie, wie der Kinderengel sich mit dem Flügel ungeschickt eine Träne beiseite wischte. Also sie haben keine Mama mehr. Oder keinen Papa. Manche haben gar niemanden mehr. Ihre Eltern sind gestorben. Die Kinder, schloss er, die Kinder sind jetzt Waisen. Corona-Waisen.
Im Himmel wurde es still. Totenstill.  Niemand sagte einen Ton. Fünf Minuten lang stand der Himmel still. Dann räusperte sich Petrus. Wir müssen sie trösten. Alle nickten. Wenigstens zu Weihnachten. Aber wer sollte das tun? Und wie? Wir schicken Ihnen Pakete. Mit Spielzeug, schlug ein Engel vor. Oder Dauerkarten fürs Kino. Da können sie hingehen und vergessen, was sie bedrückt. Sie können doch nicht den ganzen Tag ins Kino gehen, wandte ein Engel ein. Und was wird, wenn sie wieder nach Hause kommen?? Wir backen Kuchen und verzieren sie. Meine wunderbaren Himmelstorten, erbot sich der Engel aus der Himmelsküche. Er war zugegebenermaßen schon etwas pummelig, und ein Blick des Diät-Engels reichte aus, um ihm ins Gedächtnis zu rufen, dass auch die Kinder auf der Erde immer dicker wurden. Der Himmel wollte nicht auch noch für Fettleibigkeit verantwortlich sein. Nun war guter Rat teuer. Außerdem traute sich keiner der Engel so recht, zu den Kindern zu fliegen. Womit hätten sie sie trösten sollen?

Die Schule, murmelte ein sehr alter Engel. Wie – die Schule, blickte Gabriel auf. Schickt die Schule hin, also die Engelskinder. Einer der Verkündigungsengel polterte sofort los: Die Engel müssen singen lernen. Sie müssen die Weihnachtsbotschaft fehlerfrei auswendig sagen. Und außerdem sind sie viel zu klein. Gerade deshalb, wandte der alte Engel ein. Weil sie so klein sind, verstehen sie die Kinder am besten.

Der Verkündigungsengel gab sich geschlagen, und die Engel hoben die Flügelspitzen zur Abstimmung. Einstimmig, stellte Raphael fest und rief die Schule herein. Im Himmelssaal hob geschäftiges Treiben an. Engelshaar wurde gebürstet, Federchen abgezupft und am Ende kontrollierte Gabriel persönlich, ob alle ein sauberes Taschentuch dabei hatten. Dann öffnete er die riesigen Himmelsfenster und die Menge schwebte davon.

Während die Engel den Putten in ihren leuchtend weißen Gewändern hinterherspähten, rechnete Gabriel in Gedanken wieder und wieder nach. 2000 Kinder allein in Deutschland, 1 Million auf der ganzen Erde, die einen Elternteil verloren hatten oder sogar beide. Die Zahlen wirbelten in seinem Kopf. Ob es tatsächlich so viele waren? Und wie viele Kräfte hatte er zur Verfügung? Fest stand: ein Weihnachtsfest wie in diesem Jahr hatten sie hier oben im Himmel noch nicht erlebt. Er zog seine Schublade auf und beugte sich noch einmal über die Dienstpläne. Die Engel, die den Hubschraubern mit den Kranken Luft zufächelten, fehlten einfach an anderer Stelle.

Doch irgendwie schaffte er es, dass am Ende überall ein Engel erscheinen konnte, wo es nötig war. Also in den Kirchen beim Krippenspiel, in den Krankenhäusern und Heimen und natürlich in den abertausenden Wohnungen, wenn die Tür zur Weihnachtsstube aufging und die Bescherung begann. Auch an die Gefängnisse hatte er gedacht. Zum Glück hatten sich ausnahmslos alle bereiterklärt, in diesem Jahr ihrem himmlischen Dienst besonders eifrig nachzukommen. Sie sangen und musizierten, sie verkündeten und trösteten ohne Unterlass. Gerade jetzt wollten sie den Menschen auf der Erde ein frohes Weihnachtsfest bescheren.

Gabriel atmete erleichtert auf, als er in der Heiligen Nacht zu später Stunde einen Kontrollflug unternahm und durch einige Fenster spähte. Er blickte in viele dankbare Gesichter. Die meisten Menschen würdigen es tatsächlich, wenn ihnen jemand eine Freude bereitete, murmelte er. Erschöpft und zufrieden steuerte er das Himmelstor an und nahm die himmlischen Heerscharen in Empfang, die nach und nach von ihrem Dienst zurückkehrten und sich in die weichen Wolkenkissen sinken ließen.

Nur die Kleinen fehlten noch. Die Schule ließ auf sich warten. Raphael drehte ungeduldig an seiner Sanduhr und starrte auf die schneeweiße Himmelswand, als die zu blinken begann. Eine Schrift erschien: Kommen später. Raphael schüttelte verwirrt den Kopf. Auch von den anderen Engeln konnte sich niemand die Erscheinung so recht erklären. Schließlich zupfte das Zausköpfchen etwas schüchtern Raphael am Gewand: Das ist eine Nachricht, eine Message. Du weißt doch – Verkündigung.

Raphael brauchte eine geschlagene halbe Stunde, bis er es begriffen hatte. Die Menschen hatten jetzt Messenger-Dienste und schickten sich Mitteilungen. Und die hier in Leuchtschrift an der Himmelswand kam von den Schulengeln. Die hatten es sich von den Kindern beibringen lassen. Die Engel im Himmel hockten in ihren Wolkenkissen und starrten gebannt an die Wand. Dort ploppten im Minutentakt neue Nachrichten auf. Haben viel zu tun. Uns geht’s gut. Brauchen noch Zeit. LOL. Raphael und Gabriel steckten die Köpfe zusammen und berieten lange über diese moderne Art von Botschaften. Verkündigung verstanden sie eher auf traditionelle Weise. Aber sie beschlossen, die Jugend gewähren zu lassen und abzuwarten.

Es dauerte tatsächlich Tage, bis einer der Schul-Engel sich endlich im Himmel blicken ließ. Habt ihr die Kinder getröstet, wollte Gabriel wissen. Nein, begann der Kleine. Oder ja, setzte er hastig hinzu, bevor Gabriel das Gesicht verziehen konnte. Aber wir schaffen es nicht allein. Deshalb haben wir bei den Kindergärten angefangen. Wir haben mit den Kindern im Kindergarten geredet. Wir haben ihnen erklärt, warum sogar Mamas oder Papas sterben können. Das haben sie gut verstanden. Dann sind wir mit ihnen zu allen Kindern gegangen, die besonders traurig sind. Also nicht nur zu denen, die jetzt allein sind. Und dann, dann haben die Kinder sich untereinander getröstet.

Gabriel schaute skeptisch. Das sollte tatsächlich funktionieren? Der Kleine nickte. Die Kinder sind lieb. Sie merken, wenn eins von ihnen Hilfe braucht. Sie unterstützen einander. Sie nehmen Rücksicht. Auf sie können wir zählen. Als nächstes, schloss der kleine Engel, gehen wir in die Schulen.
Gabriel drehte sich zur Seite und hüstelte in die Armbeuge, damit der kleine Engel nicht bemerkte, wie gerührt er war von den Aktivitäten der jüngsten Bewohner seines Himmelreichs. Ein Kind rettet die Welt, diese Botschaft von Weihnachten hatte sich wieder einmal bewahrheitet. Sie ist wohl auch jetzt die einzige Chance, vermutete Gabriel, wenn es mit dieser Pandemie auf der Erde so weiterging. Als er den kleinen Engel mit einem Flügelschlag wieder auf die Erde entließ, ploppte auf der Himmelswand gerade eine neue Botschaft auf. Diesmal von Gott. Macht weiter. HDGDL. Genial, dachte er. Selbst Gott schickt jetzt Messages.

Erzählung zu Heiligabend 2021
Hier: Predigten zu Advent und Weihnachten

Engel Schneeberg

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